Leitsatz (amtlich)
Der Rentenversicherungsträger war spätestens nach Verabschiedung des Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung vom 23.06.2014 (in Kraft getreten am 01.07.2014) verpflichtet, die von der "Mütter-Rente" Betroffenen auf einen möglichen Anspruch auf Altersrente (ggf. unter Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen) und die rechtzeitige Antragstellung hinzuweisen. Dies gilt jedenfalls für diejenigen Betroffenen, die im Datenbestand des Rentenversicherungsträgers gespeichert waren. Aufgrund der allgemeinen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Rentenversicherungsträgers und auch der Bundesregierung lag kein atypischer Fall vor, bei dem von Hinweisen an die Betroffenen abgesehen werden konnte.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27.04.2022 aufgehoben.
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 21.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2021 verurteilt, die Nachentrichtung von 12 Monaten freiwilliger Beiträge durch die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin der Versicherten M (geb. 1932, verstorben am 14.07.2021) zuzulassen und für den Fall der Nachentrichtung den Beginn der Altersrente auf den 01.01.2015 festzusetzen und die daraus folgende Rentennachzahlung an die Klägerin auszuzahlen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin macht als Sonderrechtsnachfolgerin Rentenansprüche der verstorbenen Versicherten M (im Folgenden: Versicherte) geltend.
Die Klägerin, Tochter der 1932 geborenen Versicherten, lebte zur Zeit des Todes der Versicherten, am 14.07.2021, mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt. Die Versicherte hatte zwei Kinder, die am 08.03.1956 und am 01.01.1958 geboren wurden. Auf Antrag der Versicherten erstattete die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Bescheid vom 14.10.1959 die Arbeitnehmerbeiträge für eine mit Heirat aufgegebenen versicherungspflichtigen Tätigkeit für die Zeit vom 08.06.1954 bis zum 10.12.1955 (sog. Heiratserstattung). Mit Bescheid vom 11.01.1994 erfolgte eine Nachzahlung auf die Heiratserstattung. Mit Bescheid vom 25.01.1994 stellte die Rechtsvorgängerin der Beklagten gemäß § 149 Abs. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) die Kindererziehungszeiten für die Zeit vom 01.04.1956 bis zum 31.03.1957 und vom 01.02.1958 bis zum 31.01.1959 sowie Berücksichtigungszeiten vom 08.03.1956 bis 07.03.1966 und 01.01.1958 bis 31.12.1967 fest. Weitere sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten hat die Versicherte zeitlebens nicht ausgeübt.
Mit Bescheid vom 05.07.2014, dessen Zugang die Versicherte bestreitet, teilte die Beklagte der Versicherten mit, dass seit dem 01.07.2014 die zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten um 12 Monate für jedes Kind erhöht worden seien und sie möglicherweise erstmals die Wartezeit (Mindestversicherungszeit von 60 Monaten) für eine Regelaltersrente erfülle oder durch Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen erfüllen könne. Damit Nachteile einer verspäteten Antragstellung vermieden würden, empfehle sich eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit der Beklagten. Eine Reaktion auf dieses Schreiben seitens der Versicherten erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 03.05.2019 teilte die Beklagte der Versicherten mit, dass seit dem 01.01.2019 die zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder um bis zu 6 Monate erhöht worden seien und sie möglicherweise erstmals die Wartezeit (Mindestversicherungszeit von 60 Monaten) für eine Regelaltersrente erfülle oder durch Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen erfüllen könne. Damit Nachteile einer verspäteten Antragstellung vermieden würden, empfehle sich eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit der Rentenversicherung.
Am 20.05.2019 - und nochmals durch ihren Bevollmächtigten am 07.10.2019 - beantragte die Versicherte eine Regelaltersrente als Vollrente beginnend am 01.07.2014 und machte sogleich die freiwillige Nachzahlung von Beiträgen für 12 Monate geltend, damit die Rente ab 01.01.2015 ausgezahlt werden könne.
Mit Bescheid vom 21.10.2019 gewährte die Beklagte der Versicherten Regelaltersrente beginnend mit dem 01.01.2019 in Höhe von 166,59 € monatlich. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Beginn der beantragten Altersrente sei frühestens am 01.01.2019 möglich, da der Rentenantrag für einen Rentenbeginn am 01.07.2014 verspätet gestellt worden sei. Sie sei mit Bescheid vom 05.07.2014 darüber informiert worden, dass die zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten um 12 Monate für jedes Kind erhöht worden seien und sie aufgrund der zusätzlichen Kindererziehungszeiten möglicherweise erstmals die allgemeine Wartezeit (Mindestversicherungszeit von 60 Monaten) für eine Regelaltersrente erfüllen bzw. die Wartezeit durch eine Nachzahlung freiwilliger Beiträge erfüllen könnte. Des Weiteren sei eine kurzfristige Kontaktaufnahme mit der Rentenversicherung empfohlen worden, damit mögliche Nachteile einer verspäteten Antragstellung vermi...