Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff. sexueller Missbrauch eines Kindes. Nachweis. Glaubhaftigkeitsprüfung. Anwendbarkeit der Nullhypothese -aussagepsychologische Begutachtung. Erforderlichkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Anwendbarkeit der im strafgerichtlichen Verfahren entwickelten Nullhypothese im OEG.
2. Zur Erforderlichkeit einer aussagepsychologischen Begutachtung von Klägern und Zeugen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 10. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zwischen 1965 und 1972 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist.
Bei der am ... Februar 1957 geborenen, in Deutschland wohnhaften Klägerin, die als Erwerbsunfähige laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezieht, sind seit dem 22. Mai 2006 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen G und B im Wesentlichen wegen einer seelischen Störung und posttraumatischen Belastungsstörung (Teil-GdB von 70) anerkannt (Bescheid vom 3. Juli 2007, Bl. 41 SG-Akte).
Am 10. Oktober 1976 begab sich die Klägerin erstmalig in die Psychologische Ambulanz. Der Oberarzt der Klinik Dr. K. diagnostizierte eine konversionsneurotische Symptomatik einer infantilen Persönlichkeit (vielfältiger Symptomkomplex, ausgelöst durch den ersten Geschlechtsverkehr). Eine stationäre Behandlung in der psychosomatischen Klinik wurde empfohlen (Arztbericht vom 15. Oktober 1976, Bl. 43 f. Senatsakte). Von Februar 1978 bis Dezember 1979 wurde sie wegen einer Zwangsstörung mit depressiver Komponente und suicidalen Tendenzen, Angstzuständen und Rechenstörung verhaltenstherapeutisch behandelt (vgl. Befundbericht von Dipl.-Psych. M. vom 11. Juni 2011, Bl. 42 Senatsakte). Eine erste stationäre Behandlung fand vom 15. November 1983 bis 16. Februar 1984 im Psychiatrischen Landeskrankenhaus W. - Funktionsbereich Psychotherapie - wegen einer Angstneurose mit Zwangsgedanken statt (vgl. Arztbriefe vom 29. November 1983 und 1. März 1984, Bl. 37 f. und 39 f. Senatsakte).
Ihre Ausbildung zur Friseurin führte die Klägerin vom 1. Januar 1973 bis 30. Juni 1975 durch, war anschließend im Juli 1975 und dann wieder vom 23. März bis 9. Oktober 1976 versicherungspflichtig beschäftigt, unterbrochen von einer fünfmonatigen Arbeitslosigkeit. Eine weitere Versicherungspflicht bestand vom 1. Mai 1977 bis 31. Januar 1979, vom 15. Juni 1980 bis 7. November 1982, im März 1983, von März 1984 bis Januar 1986 und schließlich vom 8. März bis 12. August 1986. Danach war die Klägerin arbeitslos (vgl. Versicherungsverlauf vom 20. August 2008, Bl. 35 f. Senatsakte). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erfüllt die Klägerin nicht.
Mit 24 Jahren heiratete die Klägerin das erste Mal, die Ehe wurde nach kurzer Zeit geschieden. Ihren zweiten Mann heiratete sie mit 29 Jahren, er erkrankte 1997 nach einer Reise nach Kenia an Aids (nur Bluttest, nicht ausgebrochen, Bl. 41 V-Akte), 1998 trennte sie sich von ihm (vgl. Abschlussbericht Fachklinik H. vom 19. Juni 1998, Bl. 28 V-Akte).
Am 19. September 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Hinweis auf den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater von frühester Kindheit an bis zu dessen Tod in ihrem 15. Lebensjahr. Sie leide an Depressionen, Angststörung, Tinnitus, Zwängen, Alpträumen, Dissoziationsstörungen, sexueller Störung und Schwierigkeiten mit der Sexualität im Allgemeinen als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes befragte der Beklagte den behandelnden Psychotherapeuten sowie die Schwester und die Mutter der Klägerin schriftlich. Der Psychotherapeut H., bei dem die Klägerin seit 2002 in regelmäßiger ambulanter Betreuung steht, legte die Entlassungsberichte der Fachklinik H. (stationäre psychiatrische Behandlung vom 2. Februar bis 27. Mai 1998 und 21. Juni bis 2. August 2000) vor. Er berichtete, dass zunächst eine Zwangssymptomatik im Vordergrund der Behandlung gestanden habe. Erst im Verlauf der Therapie seit 1997 sei die verdrängte schwere Traumatisierung (psychogene Amnesie) mit dem Grundgefühl des hilflos Ausgeliefertseins und tiefer Selbstwertproblematik in den Vordergrund getreten. In dem beigefügten Erstantrag auf Gewährung einer Psychotherapie führte Psychotherapeutin H. aus, sie habe die Klägerin bereits von September 1992 bis zum Mai 1996 psychotherapeutisch behandelt.
Die Schwester der Klägerin, R. Q., gab an, ihre Schwester habe im Alter von 12 Jahren das erste Mal über Ängste und Zwänge berichtet, diese aber nicht als ausdrücklichen Missbrauch ...