Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. Maßgeblichkeit des Gehvermögens in fremder Umgebung. Gehstrecke für alltägliche Angelegenheiten. mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit Mindest-GdB von 80. Zusammenwirken von Störungen der Gangmotorik und Intelligenzminderung bzw Verhaltensstörung
Leitsatz (amtlich)
Nach dem Sinn und Zweck des Nachteilsausgleichs "aG" des behinderungsbedingten Mobilitätsausgleichs und der damit verbundenen Integration schwerbehinderter Menschen in die Gesellschaft ist allein maßgeblich, in welchem Ausmaß das Gehvermögen in einer dem Schwerbehinderten fremden Umgebung eingeschränkt ist. Unerheblich ist, ob das Gehvermögen in einer vertrauten Umgebung in einem weiteren Umfang besteht.
Orientierungssatz
1. Im Hinblick auf dessen nachteilsausgleichende Wirkung durch die Nutzbarkeit von Behindertenparkplätzen und damit der Verkürzung der Gehstrecke bei der Verrichtung alltäglicher Angelegenheiten wie dem Besuch der Schule, der Arbeitsstätte, des Arztes, von kirchlichen und kulturellen Einrichtungen oder beim Einkaufen ist es insofern allein maßgeblich, in welchem Ausmaß das Gehvermögen bei diesen Verrichtungen eingeschränkt ist.
2. Zur Bejahung einer mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung mit einem Grad der Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 80 im Falle des Zusammenwirkens von Störungen der Körpermotorik und Intelligenzminderung bzw Verhaltensstörung (hier infolge des Gendefekts "Mikrodeletionssyndroms 22q11").
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte erstattet dem Kläger auch seine außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen die Verpflichtung zur Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) ab dem 11. Dezember 2018.
Der Kläger ist 2009 geboren. Seit seiner Geburt leidet er unter eine Mikrodeletion 22q11.2. (Das Mikrodeletionssyndrom 22q11.2 ist der zweithäufigste Gendefekt beim Menschen. Hierbei ist ein winzig kleiner Teil der normalen Erbinformation auf dem Chromosom 22 verloren gegangen. Jedes 4.000ste Neugeborene ist betroffen.) Er besucht die M. Schule, M. P. Schule, Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung.
Auf seinen Erstantrag nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) stellte das Landratsamt O. (LRA) durch Bescheid vom 28. Juni 2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 19. Februar 2009 fest. Dieser Feststellung lag die versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. N. zugrunde, die eine psychomotorische Entwicklungsstörung mit einem GdB von 50 bewertete. Maßgeblich hierfür war der Bericht des Universitätsklinikums T. über die Vorstellung des Klägers im Februar 2010, aus dem sich die Diagnosen eines ehemaligen Frühgeborenen der 35. SSW (GG 1990 g, P10) und einer Mikrodeletion 22q11.2 mit schwerer psychomotorischer Retardierung mit Rumpfhypotonie, einem leichtem dysmorphem faszialem Stigmata, einer Pupillenektopie und einer Iriskolobom rechts, einer Positionsanomalie des Truncus brachiocephalicus, einem Z. n. Umsetzung am 29. Dezember 2009 und einem Maldeszensus testis rechts ergaben.
Am 27. April 2011 beantragte der Kläger die Neufeststellung des GdB und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr). Zur Vorlage kam unter anderem das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) aufgrund seiner Untersuchung vom 29. November 2010; die Pflegestufe II wurde empfohlen. Im Weiteren gelangte zur Verwaltungsakte der Bericht der Nachsorgeklinik T. über die familienorientierte Rehabilitation vom 31. März bis zum 28. April 2011, aus dem sich als Diagnosen eine Mikrodeletion 22q11.2, ehemaliges FG 35. + 5. SSW, einen Z. n. säbelscheidenförmiger Einengung der Trachea mit stark abgeflachter Karina und Malazie zum linken Hauptbronchus bei Kompression durch den Truncus brachiocephalicus nach anterior und proximal 29. Dezember 2009, eines Z. n. bds. Pneumothorax und Dystelektase sowie postoperativer NIV-Beatmung bis 3. Januar 2010, eines Maldesczensus testis links Orchidopexie August 2010, eines Plagiocephalus, eines verzögerten Erreichens der Entwicklungsstufen, einer Pupillenektopie und eines Iriskolobom sowie negativer Kindheitserlebnisse (kardiologische Erkrankung und Therapie) ergaben. Die Versorgungsärztin P. bewertete nunmehr die psychomotorische Entwicklungsstörung mit einem GdB von 80. Aufgrund der jetzt sehr deutlichen Entwicklungsverzögerung könne eine höhere Bewertung und der Nachteilsausgleich „G“ empfohlen werden. Eine Nachprüfung bereits in zwei Jahren ...