Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. Gleichstellung mit den in Abschn 2 Nr 1 zu § 46 Nr 11 StVOVwV genannten Personen. Unbeachtlichkeit der zumutbaren Wegstrecke. große Anstrengung. Erforderlichkeit fremder Hilfe. Notwendigkeit einer weit geöffneten Wagentür
Leitsatz (amtlich)
Die Notwendigkeit einer weit geöffneten Tür beim Ein- und Aussteigen erfüllt die Voraussetzungen für die Annahme einer Einschränkung der Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße nicht.
Orientierungssatz
1. Voraussetzung für die Zuerkennung der Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) ist, dass der Betroffene zumindest mit den Personen gleichgestellt werden kann, die in Abschn 2 Nr 1 zu § 46 Nr 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (juris: StVOVwV) genannt werden. Eine Gleichstellung setzt jedoch voraus, dass die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sich der Betroffene nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die dort aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (hier verneint).
2. Es ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, auf welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. November 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens “außergewöhnliche Gehbehinderung„ (aG) streitig.
Der 1938 geborene Kläger betrieb bis 1991 einen Getränkegroßhandel und befindet sich mittlerweile im Ruhestand. Im August 2008 wurde rechts eine Hüftendoprothese (Hüft-TEP) implantiert, wobei aufgrund einer Pfannenlockerung bereits im November eine Revision erforderlich war. Im März 2010 wurde das linke Sprunggelenk versteift. Auch hier war im Oktober 2011 eine Korrekturoperation des gesamten Fußes erforderlich, wobei eine ausgeprägte Deformierung des Rück-/Mittelfußes mit praktisch vollständigem Verlust des Fußgewölbes verblieb.
Am 16. Dezember 2010 beantragte der Kläger die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderung zum 24. November 2008 unter Vorlage verschiedener Arztberichte sowie eines Attests des Hausarztes Dr. K. vom 12. Dezember 2010 (erheblich in der Mobilität behindert, schmerzfreies Gehen nur ca. 100 Meter möglich, benötigt Gehstock und orthopädische Schuhe). Nach Einholung eines Befundberichts des Orthopäden Dr. M.-E. vom 19. April 2011 (diabetischer Charcot-Fuß, Gehstrecke praktisch nicht möglich) stellte der Beklagte mit Bescheid vom 4. Mai 2011 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 seit 1. März 2010 fest und lehnte die Feststellung von Merkzeichen wegen fehlender Schwerbehinderteneigenschaft ab.
Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, seine Hüfte wackle und verursache Schmerzen, wegen derer er kaum gehen könne. Orthopädische Stiefel zwängen ihn bei der Nutzung seines Pkw dazu, die Fahrertür beim Aussteigen ganz zu öffnen.
Unter Berücksichtigung weiterer Unterlagen, insbesondere derer des Diakonie-Klinikums St. über die Behandlung seit März 2010 sowie der Neurologin Dr. T. vom 18. Mai 2011 (erschwerte Gangproben nicht durchführbar) kam Versorgungsarzt Dr. H. zu dem Ergebnis, dass das Merkzeichen G vertretbar sei. Die Gebrauchseinschränkung des linken Fußes mit Versteifung des linken unteren Sprunggelenks sowie die mit einer Funktionsbehinderung einhergehende Hüft-TEP rechts nebst der Polyneuropathie müssten mit einem Einzel-GdB von 50, der Bluthochdruck und die arterielle Verschlusskrankheit des linken Beines mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet werden.
Mit Teilabhilfebescheid vom 11. August 2011 stellte der Beklagte gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme einen GdB von 50 ab 1. März 2010 sowie das Merkzeichen “erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr„ (G) fest und lehnte das Merkzeichen ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen seien nicht so ausgeprägt, dass sie dem als Vergleichsmaßstab genannten Personenkreis beim Merkzeichen “aG„ entsprächen.
Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 9. September 2011 an seinem Widerspruch festhielt, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. November 2011 den Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ergänzend ausgeführt, der festgesetzte Gesamt-GdB von 50 schließe Schmerzen, seelische Begleiterscheinungen und Beeinträchtigungen bei der täglichen Lebensführung mit ein. Der Kläger sei weder ständig auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen noch könne er bezüglich der eingeschränkten Gehfähigkeit mit einem Doppel-Oberschenkelamputierten ver...