Entscheidungsstichwort (Thema)

gesetzliche Unfallversicherung. Zwangsmitgliedschaft. deutscher Unternehmer. Arbeitnehmerversicherung. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtskonformität

 

Orientierungssatz

Die Pflichtmitgliedschaft in der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung, auch soweit sie den isolierten Bereich der Versicherung der Arbeitnehmer gegen die Risiken des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit betrifft, verstößt weder gegen Verfassungsrecht noch gegen Europarecht.

 

Tatbestand

Im Streit ist die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten, einem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung.

Die Klägerin, eine Bau- und Sanierungsgesellschaft mit beschränkter Haftung, wurde mit bindendem Bescheid vom 01.12.1976 der Südwestlichen Bau-Berufsgenossenschaft - deren Aufgaben nunmehr von der Beklagten wahrgenommen werden - mit Wirkung zum 01.07.1976 in deren Unternehmerverzeichnis eingetragen unter Festsetzung der Gefahrklasse.

Mit Schreiben vom 12.10.2004 kündigte die Klägerin die Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten zum Jahresende 2004. Sie beabsichtige, sich privat gegen die bestehenden Risiken abzusichern.

Die Beklagte teilte hierauf der Klägerin mit Bescheid vom 20.10.2004 mit, die von ihr ausgesprochene Kündigung sei rechtlich unzulässig und könne nicht angenommen werden, da die Beklagte als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung kraft Gesetzes zuständig sei.

Hiergegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 04. November 2004. Zur Begründung trug sie vor, die Ablehnung der Entlassung aus der Pflichtmitgliedschaft im Hinblick auf den abtrennbaren Teil der Pflichtversicherung der Arbeitnehmer gegen Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle sei mit europäischem Recht und Verfassungsrecht unvereinbar. Es werde ihr unmöglich gemacht, günstigere Angebote ausländischer Versicherer wahrzunehmen, wodurch sie in ihrer passiven Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 ff. des Vertrages zur Gründung der europäischen Gemeinschaft (EGVtr) beeinträchtigt werde. Überdies verstoße die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft mit Wirkung für die Zukunft gegen die Individualschutz entfaltenden Vorschriften der Art. 81 ff. EGVtr. Hinzu träten Verstöße gegen die Art. 2, 3, 9, 12 und 14 Grundgesetz (GG), da es ihr verwehrt sei, sich anderweitig abzusichern und sie insoweit in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit betroffen sei und gegenüber in- und ausländischen Konkurrenten, die bei günstigeren Versicherern abgesichert seien, benachteiligt werde. Ihr werde die Möglichkeit genommen, ihre Mitgliedschaft frei zu wählen und letztlich werde in ihren eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb eingegriffen. Grundsätzlich stelle sie die Rechtmäßigkeit einer Pflichtmitgliedschaft nicht in Frage. Sie wolle auch künftig ihre Arbeitnehmer gegen die entsprechenden Risiken absichern, möchte aber wählen können, bei welchem Anbieter sie dies tue.

Sie wende sich auch nicht gegen ihre Beitragspflicht für die Vergangenheit. Das Urteil des BSG vom 11.11.2003 (B 2 U 16/03R, SozR 4-2700 § 150 Nr. 1) sei daher nicht einschlägig. Auch die sogenannte Cisal - Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sei vorliegend nicht einschlägig. Sie habe nicht die Frage der passiven Dienstleistungsfreiheit zum Gegenstand gehabt und im Übrigen lediglich die Unternehmenseigenschaft des italienischen Unfallversicherungsträgers INAIL betroffen. Die italienische Unfallversicherung und ihre reale Durchführung unterscheide sich so erheblich von der deutschen, dass aus dieser Entscheidung für das vorliegende Verfahren nichts folge.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2004 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit im Sinne der Art. 49 ff. EGVtr sei nicht gegeben, da Dienstleistungen im Sinne dieser Vorschrift von den gesetzlichen Unfallversicherungsträgern nicht erbracht würden. Vielmehr erbrächten die Berufsgenossenschaften die in § 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) bezeichneten Aufgaben durch Erbringung von Sozialleistungen im Sinne von § 11, 22 SGB I. Beiträge würden allein zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung erhoben und nicht zu Erwerbszwecken. Unabhängig von dieser Frage sei die Befugnis des deutschen Gesetzgebers zur Ausgestaltung der Unfallversicherung als solidarisch finanzierter staatlicher Pflichtversicherung zu beachten. Auch ein Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht (Art. 81 ff. EGVtr) liege nicht vor, da die Berufsgenossenschaften keine Unternehmen im Sinne dieser Vorschriften seien. Diesbezüglich sei es unerheblich, dass die Klägerin lediglich eine teilweise Aufhebung des Versicherungsteils ihrer Mitgliedschaft anstrebe. Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht sich in einer Vielzahl von Entscheidungen mit verschiedenen Aspekten des Unfallversicherungsrechts beschäftigt und dabei die Verfassungsmäßigkeit des Versicherungsmonopols der Berufsgenossenschaften und des gegliederten Systems d...

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