Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung der Rentner. Mitgliedschaft. Beginn der Rahmenfrist mit erstmaliger Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Verfassungsmäßigkeit. keine Rückwirkung der zum 1.8.2017 eingefügten Regelung des § 5 Abs 2 S 3 SGB 5
Leitsatz (amtlich)
1. Die mit Wirkung zum 1.8.2017 eingefügte Regelung des § 5 Abs 2 S 3 SGB V (Gesetz vom 4.4.2017, BGBl I 2017, 778) entfaltet keine Rückwirkung für davorliegende Zeiten.
2. Im Hinblick auf den weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Sozialversicherungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Zugangs zur KVdR nach § 5 Abs 1 Nr 11 SGB V aF für den hier abgeschlossen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 05.08.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Aufnahme der Klägerin in die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) für die Zeit vom 01.08.2011 bis 31.07.2017 streitig.
Die 1951 geborene Klägerin ist seit 1990 verheiratet. Sie ist Mutter von drei Kindern, geboren 1988, 1991 und1994. Am 01.08.1965 nahm die Klägerin eine berufliche Ausbildung auf, die sie zum 31.08.1968 beendete. Anschließend war sie bis zum 13.04.1988 versicherungspflichtig beschäftigt. Wegen Schwangerschaft, Mutterschutz und Kindererziehung unterbrach sie ihre Erwerbstätigkeit bis zum 31.08.2000. Vom 01.09.2000 bis zum 31.07.2011 war sie versicherungspflichtig beschäftigt. Die Klägerin war vom 16.10.1968 bis zum 31.12.1990 bei der B1 Ersatzkasse gesetzlich krankenversichert (Blatt 93 der Verwaltungsakten), in der Zeit vom 01.01.1991 bis zum 01.01.1999 privat bei der V1 AG (Blatt 190 der Verwaltungsakten). Anschließend war sie nicht Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung und auch nicht familienversichert (Blatt 192 der Verwaltungsakten). Seit dem 01.09.2000 ist die Klägerin wieder Mitglied in einer gesetzlichen Krankenkasse, der Beklagten zu 1 (Blatt 191 der Verwaltungsakten).
Am 27.06.2011 beantragte die Klägerin bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) eine Altersrente für Frauen. Die Anmeldung zur KVdR übermittelte die DRV am 28.06.2011 an die Beklagte. Seit dem 01.08.2011 bezieht die Klägerin eine Altersrente für Frauen, bis zur Aufnahme in die KVdR zum 01.09.2017 nebst Zuschuss zur freiwilligen Krankenversicherung. Die Beklagten führten eine freiwillige Versicherung in der streitigen Zeit durch, wobei insofern noch Streit über die Höhe der zu erhebenden Beiträge besteht.
Mit Bescheid vom 30.06.2011 (Blatt 188 der Verwaltungsakten) lehnten die Beklagten eine Aufnahme der Klägerin in die KVdR ab, weil die Versicherungszeiten nicht erfüllt seien. Gegen den Bescheid vom 30.06.2011 legte die Klägerin Widerspruch ein (Blatt 155 der Verwaltungsakten) und beantragte, sie in der KVdR zu versichern, hilfsweise sie als freiwilliges Mitglied zum Mindestbeitragssatz nach § 240 Abs. 4 Satz 1 SGB V einstweilen bis zur rechtskräftigen Klärung der Angelegenheit zu versichern. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe durch Beschluss vom 15.03.2000 entschieden, dass es mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar sei, dass nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 Halbsatz 1 SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung dann von der Krankenversicherung der Rentner ausgeschlossen seien, wenn sie nicht seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrages mindestens 9/10tel der zweiten Hälfte des Zeitraumes seit Beginn ihrer Erwerbstätigkeit auf Grund einer Pflichtversicherung versichert gewesen seien. Der Verstoß könne nicht nur durch eine Neuregelung des Zugangs der KVdR, sondern auch durch eine Änderung im Beitragsrecht behoben werden. Nachdem der Gesetzgeber seiner Neuregelungspflicht nachgekommen sei, sei § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V unwirksam und die von den Beklagten angewandte 9/10- Regelung greife nicht. Sie gehe davon aus, dass maßgebend für den Zugang zur KVdR der Grundsatz der Halbbelegung sei. Danach müsste die Versicherte mindestens die Hälfte der Zeit vor der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrages Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung gewesen seien.
Mit Anhörungsschreiben vom 19.08.2014 (Blatt 136 der Verwaltungsakten) legten die Beklagten u.a. die der Bestimmung der Vorversicherungszeiten maßgeblichen Daten dar (Erwerbsleben vom 01.08.1965 bis 26.06.2011, Beginn der zweiten Hälfte des Erwerbslebens 15.07.1988, zweite Hälfte des Erwerbslebens 15.07.1988 bis 26.06.2011, 90% der Zeit = 20 Jahre, 8 Monate und 1 Tag, nachgewiesene Zeiten 10 Jahre, 9 Monate und 27 Tage, Versicherungslücke 15.07.1988 bis 31.08.2000, Fehlzeiten zum Erreichen von 9/10 9 Jahre, 10 Monate und 4 Tage, Hauptursache Versicherungsschutz bei der V1 AG vom 01.01.1991 bis 01.01.1999).
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