Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Prüfung der medizinischen Voraussetzungen. Wegefähigkeit. Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit durch einen gerichtlichen Sachverständigen und die den Versicherten behandelnden Ärzte
Orientierungssatz
1. In sozialgerichtlichen Verfahren, in denen um eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung gestritten wird, kommt der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige grundsätzlich ein höherer Beweiswert zu, als der Einschätzung der behandelnden Ärzte.
2. Zur Prüfung eines Anspruchs auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund fehlender Wegefähigkeit.
3. Nach derzeitigem Stand kann von einem praktisch gänzlichen Fehlen von Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die nur mit leichten körperlichen und geistigen Fähigkeiten verknüpft sind, nicht ausgegangen werden, auch nicht aufgrund der Digitalisierung oder anderer wirtschaftlicher Entwicklungen (vgl BSG vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R = BSGE 129, 274 = SozR 4-2600 § 43 Nr 22, RdNr 27).
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 21.01.2022 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.
Tatbestand
Die am geborene Klägerin erlernte den Beruf der Floristin. Sie war zuletzt im September 2017 als Gärtnerin in Vollzeit versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend bezog sie Kranken- bzw Übergangsgeld und Arbeitslosengeld. Seit 01.10.2020 bezieht die Klägerin Arbeitslosengeld II. Sie übte und übt eine geringfügige nicht versicherungspflichtige Beschäftigung als Reinigungskraft im Umfang von 6,82 Stunden/Woche aus. Außerdem ist sie nebenberuflich selbstständig im Vertrieb von Reinigungsprodukten tätig.
In der Zeit vom 26.02.2016 bis zum 23.03.2016 absolvierte die Klägerin eine stationäre Maßnahme der medizinischen Rehabilitation in der S1, aus der sie arbeitsfähig und mit einem Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten, überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen von sechs Stunden und mehr entlassen wurde (Entlassbericht des D1 vom 31.03.2016; Diagnosen Fibromyalgiesyndrom, chronisches Schmerzsyndrom mit andauernder Persönlichkeitsstörung, chronisch degeneratives LWS-Syndrom, kleiner paramedialer Bandscheibenvorfall L5/S1 links, breitbasige Bandscheibenprotrusion L3/2, Coccygodynie (chronische Schmerzen in der Umgebung des Steißbeines), chronisches Cervicobrachialsyndrom bei Bandscheibenprotrusion C5/C6 und C6/C7).
In der Zeit vom 03.07.2018 bis zum 31.07.2018 wurde die Klägerin in der Fachklinik E1 zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung stationär behandelt, aus der sie - bezogen auf ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Gärtnerin - arbeitsunfähig entlassen wurde (Entlassbericht der W1 vom 17.08.2018; Diagnosen rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, vordiagnostiziertes Fibromyalgiesyndrom, chronisches LWS-Syndrom mit Bandscheibenvorfall L5/S1 ohne Radikulopathie).
Am 07.03.2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte veranlasste eine psychiatrische Begutachtung. Die M1 gelangte in ihrem Gutachten vom 03.12.2019 aufgrund einer ambulanten Untersuchung der Klägerin - unter Berücksichtigung der Diagnose somatoforme Schmerzstörung - zu der Einschätzung, dass die Klägerin in der Lage sei, leichte und zeitweilig mittelschwere Tätigkeiten sechs Stunden und mehr zu verrichten. Unzumutbar seien ihr schweres Heben und Tragen von Gegenständen von mehr als 10 kg, Tätigkeiten mit übernormalem Stress und Druck, mit Nachtarbeit und in Akkord. Die frühestmögliche Reintegration in das Erwerbsleben sei anzustreben, um einer weiteren Chronifizierung vorzubeugen. Die Klägerin sei in der Lage, ihren Haushalt zu verrichten, inklusive Mitversorgung der seinerzeit 20-jährigen Tochter. Ihr seien Außerhaustätigkeiten möglich, sie fahre selbständig mit dem PKW. Der körperlich neurologische Status sei weitgehend unauffällig. Hinweise auf eine Radikulopathie hätten nicht bestanden. Bis auf die polytopen Schmerzzustände bestehe ein regelrechter psychopathologischer Befund.
Der L1 schloss sich unter dem 11.12.2019 der Leistungseinschätzung der M1 an und sah die Klägerin in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen in Früh- und Spätschicht ohne Akkord und taktgebundene Arbeit, besonderen Zeitdruck und ohne anhaltenden Einfluss von Kälte, Nässe und Zugluft sechs Stunden und mehr zu verrichten.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit ...