Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Leistungsgewährung an EU-Ausländer. Folgenabwägung im sozialgerichtlichen Eilverfahren
Orientierungssatz
Im sozialgerichtlichen Eilverfahren über Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende für einen EU-Ausländer ist im Rahmen der Folgenabwägung bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen eine vorläufige Leistungsgewährung in Höhe jedenfalls der Mindestleistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geboten.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juni 2012 aufgehoben, soweit das Sozialgericht den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung von Leistungen für die Zeit ab 1. Juni 2012 bis längstens 31. August 2012 in einer Höhe von mehr als 225,- EUR monatlich verpflichtet hat. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im gesamten Verfahren. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten bewilligt.
Gründe
Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden und Berichterstatter zu entscheiden.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist das Rechtsmittel nicht begründet und war daher zurückzuweisen.
Soweit das Sozialgericht den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung verpflichtet hat, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund in Gestalt eines unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses. Die Antragstellerin lebt ungekündigt in der im Rubrum bezeichneten Unterkunft. Eine Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit ist derzeit nicht zu besorgen, so dass mit einem Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache jedenfalls gegenwärtig für die Antragstellerin keine nicht mehr rückgängig zu machenden Nachteilen verbunden ist.
Für die Zeit ab 1. Juni 2012 bis längstens 31. August 2012 war der Antragsgegner gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG indes zu monatlichen Leistungen iH der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu verpflichten (vgl § 3 Abs. 1 Satz 3 Nr 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG). Der im Wege der einstweiligen Anordnung zu sichernde Anordnungsanspruch ergibt sich aufgrund der verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - juris) im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtdeutsche Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht - wie bei der die griechische Staatsangehörigkeit besitzenden Antragstellerin - auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU beruht. Wegen der in Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU stellt sich jedenfalls die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - (Urteil vom 04. Juni 2009 - C - 22/08 - juris) kann sich nämlich ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hergestellt hat, auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, die ggfs einem derartigen Leistungsanspruch entgegensteht, betrifft demgegenüber aber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe"; insoweit wird darauf hingewiesen, dass eine Leistungsvoraussetzung wie die der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II ein Hinweis darauf sein könne, dass Leistungen der Grundsicherung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollten (vgl. EuGH aaO). Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 findet dann indes keine Anwendung. Im Übrigen sind auch die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergebenden rechtlichen Folgen für die hier einschlägige Ausschlussnorm nicht abschließend geklärt, dürften bei summarischer Prüfung aber zumindest nicht ausschließen, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt.
Angesichts des Existenz sichernden Charakters der beanspruchten Leistungen wiegen die der Antragstellerin drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des gestellten Rechtsschutzantrages und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren jedenfalls ungleich schwerer als der dem Antragsgegner drohende Nachteil einer ggfs nicht zu realisierenden Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistungsbeträge. Daher war der Antragsgegner entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Senats zu verpflichten, - nur - das absolute Existenzminimum der Antragstellerin zu sichern. Die insoweit entsprechend heranzuziehenden Gru...