Entscheidungsstichwort (Thema)

Bedarfsgemeinschaft. Einkommen. Mitwirkung. Folgenabwägung

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2007 geändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 31. Juli 2007, längstens jedoch bis zur Zustellung der Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 21. Februar 2007, zur Sicherung des Lebensunterhalts Lebensmittelgutscheine zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die gemäß § 172 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Klägers, der das Sozialgericht Berlin nicht abgeholfen hat, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.

1.) Für die Gewährung von Leistungen ab Eintragseingang bei dem Sozialgericht Berlin bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es an einem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen würde.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫, 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände hat der Antragsteller nicht vorgetragen, sie sind auch nach Aktenlage nicht ersichtlich. Hierbei ist im Übrigen auch zu berücksichtigen, dass der Senat den Antragsgegner bereits mit Beschluss vom 12. März 2007 verpflichtet hat, den Antragsteller zur Sicherung seines Lebensunterhalts, vorläufig, bis zur Entscheidung des Senats über seine Beschwerde mit Lebensmittelgutscheinen zu versorgen. Dies bedeutet, dass insoweit effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangt und dem Antragsteller ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet werden kann.

2.) Für die Zeit nach Zustellung des Beschlusses ist die beantragte einstweilige Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung zu treffen. Hierbei sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) entwickelt hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005,927 ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung d...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?