Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Opfer einer mehrfachen Vergewaltigung. Minderung des sexuellen Erlebens als Schädigungsfolge. kein rentenberechtigender Grad der Schädigungsfolgen. keine Beschädigtenrente. sozialgerichtliches Verfahren. Amtsermittlungspflicht. neuer Befundbericht des behandelnden Arztes. kein Anlass zu weiteren Ermittlungen bei zwei bereits vorliegenden Gutachten
Orientierungssatz
1. Eine Minderung des sexuellen Erlebens als Schädigungsfolge einer mehrfachen Vergewaltigung führt nicht zwingend zu einem Anspruch auf Beschädigtenrente nach § 1 OEG iVm § 30 Abs 1, § 31 Abs 1 BVG.
2. Ein neu vorgelegter Befundbericht des behandelnden Arztes gibt nicht ohne Weiteres einen Anlass zu weiterer Beweiserhebung, wenn dem Gericht bereits zwei umfassende gutachterliche Untersuchungen durch zwei voneinander unabhängige Gutachter vorliegen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juni 2016 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Opferentschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) hat.
Die 1968 geborene Klägerin wurde am 18. September 1991 von dem alkoholisierten Lebensgefährten ihrer Halbschwester in ihrer Wohnung mehrfach vergewaltigt und sexuell genötigt. Der Täter wurde durch das Amtsgericht B-T mit Urteil vom 15. Dezember 1993 wegen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt.
Am 18. November 2011 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem OEG und verwies in diesem Zusammenhang auf seelische und psychische Störungen sowie eine Hormonstörung mit Hyperandrogenämie und Alopezie als Folgen der Gewalttat.
Der Beklagte zog ärztliche Befundunterlagen bei und veranlasste ein psychiatrisches Kausalitätsgutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Sch vom 13. August 2013. Infolgedessen lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 16. September 2013 ab, da die festgestellte Schädigungsfolge (Minderung des sexuellen Erlebens) keinen Grad der Schädigung bedinge, der wenigstens 25 betrage.
Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und führte aus, ihre behandelnden Ärzte hätten eine posttraumatische Belastungsstörung und den Verlust der Kopfhaare als Schädigungsfolgen festgestellt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. November 2013 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Weder der hormonell bedingte Haarausfall noch die geltend gemachten psychischen Beschwerden seien nach versorgungsärztlicher Einschätzung ursächlich auf die erlittene Gewalttat zurückzuführen. Die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung lägen nicht vor.
Die Klägerin hat am 6. Dezember 2013 Klage erhoben und ausgeführt, sie leide an zunehmender Alopezie und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Haarausfall sei erst nach der Vergewaltigung aufgetreten. Die ebenfalls schon länger bestehende psychische Beeinträchtigung stünde nach Einschätzung der behandelnden Fachärztin ebenso in einem Ursachenzusammenhang mit der Tat. Es liege insofern eine posttraumatische Belastungsstörung vor.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte sowie des Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. St vom 22. Februar 2016. Mit Urteil vom 14. Juni 2016 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen und ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Opferentschädigung, da die Folgen der gegen die Klägerin verübten Gewalttat keinen Grad der Schädigung von wenigstens 30 bedingten. Der Sachverständige habe überzeugend festgestellt, dass bei der Klägerin psychische Auffälligkeiten infolge einer hirnorganisch bedingten Persönlichkeits- und Verhaltensstörung sowie Anpassungsstörungen mit gelegentlich depressiven Reaktionen vorlägen. Ebenso wie der hormonell bedingte Haarausfall seien diese Erkrankungen jedoch nicht auf die Gewalttat zurückzuführen, sondern auf die zunehmenden körperlichen, geistigen und kosmetischen Beeinträchtigungen. Eine posttraumatische Belastungsstörung können ausgeschlossen. Allein die Minderung des sexuellen Erlebens könne mit einem Grad der Schädigung von 10 angenommen werden.
Mit der am 15. August 2016 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Der Senat hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Forensische Psychiatrie Dr. L vom 15. Februar 2019. Danach leide die Klägerin seit November 2011 an einer neurotischen Störung mit Zwanghaftigkeit, Extroversion und Entschädigungsbegehren. Infolge der gegen sie verübten Gewalttat sei eine Beeinträchtigung der sexuellen Erlebnisfähigkeit festzustel...