Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss griechischer Staatsangehöriger bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Arbeitnehmergemeinschaft im Sinne der europäischen Vorschriften. Anwendbarkeit des Europäischen Fürsorgeabkommens. Europarechtskonformität. Wirksamkeit einer Vorbehaltserklärung gegen die Anwendung neuer Rechtsvorschriften nach der Wiener Vertragsrechtskonvention und dem Europäischen Fürsorgeabkommen. Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt mit dem Recht der Europäischen Union, dem Europäischen Fürsorgeabkommen und Verfassungsrecht
Leitsatz (redaktionell)
1. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verletzt nicht das Recht der Europäischen Union. Er beruht auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG, dem die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unterfallen, und der als Spezialvorschrift der Regelung des Art. 4 VO 883/2004 vorgeht.
2. Die Regelung des Art. 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist auch nicht wegen des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens unanwendbar. Der von der Bundesregierung am 19.12.2011 erklärte Vorbehalt, wonach sie keine Verpflichtung übernehme, die im SGB II vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden, ist rechtmäßig aufgrund Art. 16b S. 2 EFA, der eine das allgemeinen Völkerrecht und die Wiener Vertragsrechtskonvention verdrängende Spezialvorschrift darstellt, ergangen.
3. Der Vorbehalt des Art. 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II steht mit dem Verfassungsrecht im Einklang. Die Bundesregierung durfte den Vorbehalt ohne die Zustimmung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften erklären, da dieser keinen Vertrag i.S.v. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG darstellt.
Orientierungssatz
1. Als Arbeitnehmer iS des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU 2004 ist auch anzusehen, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient, als im betreffenden Mitgliedstaat als Existenzminimum angesehen wird; außer Betracht bleiben lediglich Tätigkeiten, mit einem geringen Umfang der Arbeitszeit von wöchentlich elf Stunden und gleichzeitigem Verdienst von weniger als 100,00 €, so dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.
2. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II beruht auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG und verletzt nicht das Recht der Europäischen Union.
3. Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verstößt nicht gegen die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004).
4. Die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist nicht wegen des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (juris: EuFürsAbk) unanwendbar, vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R.
5. Der von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19.12.2011 erklärte Vorbehalt nach Art. 16 Buchst. b EuFürsAbk gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen nach SGB 2 ist wirksam und schließt Staatsangehörige der Signatarstaaten (hier Griechenland) vom Leistungsbezug aus.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; Richtlinie 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2; VO 883/2004 Art. 4; GG Art. 59 Abs. 2 S. 1
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. Juli 2012 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Die Beteiligten haben einander für beide Rechtszüge keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Die am 11. Juli 2012 eingegangene Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. Juli 2012 ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antragstellern im Wege der einstweiligen Anordnung für die Zeit vom 1. Juni 2012 bis zum 30. September 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) zugesprochen.
Die griechischen Antragsteller, die als Eheleute in ihrer Wohnung zusammenleben, haben keinen Anordnungsanspruch mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG], 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]).
Ein Anordnungsanspruch aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 SGB II in der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches vom 24. März 2011 (BGBl. I S. 453) scheitert bereits daran, dass die Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterliegen. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen ausgenommen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Als Unionsbürger dürfen sich die erwerbsfähigen Antragstel...