Entscheidungsstichwort (Thema)
Intertemporales Verfahrensrecht. Klage. Zur Erstattung von Anwaltskosten im Vorverfahren. Ausschluss der Beschwerde. Ausnahme vom intertemporalen Verfahrensrecht zu §§ 193 und § 72 Abs. 3 Nr. 3 SGG
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Ausschluss der Beschwerde gegen Kostengrundentscheidungen nach § 193 SGG durch § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG in der ab dem 01.04.2008 geltenden Fassung erfasst die zu diesem Zeitpunkt bereits anhängigen Beschwerden in Abweichung vom Grundsatz des intertemporalen Verfahrensrechts nicht.
2. Ist ernstlich zweifelhaft, ob vor Erhebung der Klage ein Vorverfahren gem. § 78 SGG durchzuführen ist, ist in der Klage grundsätzlich hilfsweise die Erhebung des Widerspruchs enthalten mit der Folge, dass das Verfahren nach § 114 Abs. 2 SGG auszusetzen ist, um dem Kläger die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen.
Orientierungssatz
1. Eine im Jahr 2007 eingelegte Beschwerde gegen die nach § 193 SGG im Anschluss an die Erledigung eines Streits um die Aberkennung des Alleinerziehungszuschlags ergangene Kostenentscheidung ist nicht dadurch unstatthaft geworden, dass seit dem 01.04.2008 gem. § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG die Beschwerde gegen Kostengrundentscheidungen nach § 193 SGG ausgeschlossen ist, denn vom Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts, dass Änderungen des Verfahrensrechts grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten erfassen, gilt die verfassungsrechtlich gebotene Ausnahme, dass bereits anhängige Rechtsmittel statthaft bleiben, auch wenn das Rechtsmittel nachträglich beschränkt wird (Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 07.07.1992, 2 BvR 1631/90 und 2 BvR 1728/90).
2. Beim Streit um die Aberkennung des Alleinerziehungszuschlags nach § 21 Abs. 3 SGB 2 ist die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren gem. § 63 Abs. 2 SGB 10 notwendig und sind dessen Kosten damit bei erfolgreichem Widerspruch erstattungsfähig, weil für einen Laien die Voraussetzungen für die Gewährung eines Alleinerziehungszuschlags nicht ohne Weiteres zu erfassen sind.
3. Der Widerspruch ist auch dann nach § 63 Abs. 1 SGB 10 erfolgreich, nämlich ursächlich, wenn die Beklagte auf den in der Klage zu sehenden hilfsweisen Widerspruch das Verfahren zwar nicht entsprechend § 114 Abs. 2 SGG förmlich ausgesetzt hat, jedoch auf die von der Klägerin in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abgegebene eidesstattliche Versicherung erneut in die Sachprüfung eingetreten ist und daraufhin dem Widerspruch abgeholfen hat. Denn ein Widerspruch ist nur dann nicht erfolgreich, wenn die abhelfende Entscheidung des Rechtsträgers nicht dem Widerspruch, sondern einem anderen Umstand zuzurechnen ist (Anschluss an BSG, Urt. vom 18.12.2001 - B 2 KR 42/00 R -).
Normenkette
SGG § 172 Abs. 3 Nr. 3, § 193 Abs. 1 S. 3, § 114 Abs. 2, § 78; GG Art. 20 Abs. 3
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 5. Oktober 2007 aufgehoben und angeordnet, dass die Beklagte der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten erster Instanz zu erstatten hat.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 5. Oktober 2007 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und begründet.
Der Statthaftigkeit der Beschwerde steht die durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444) mit Wirkung ab 1. April 2008 angefügte Regelung in Absatz 3 Nr. 3 des § 172 SGG nicht entgegen, wonach die Beschwerde gegen Kostengrundentscheidungen nach § 193 SGG ausgeschlossen ist. Denn die Neuregelung trat erst in Kraft, nachdem die vorliegende Beschwerde am 13. November 2007 eingelegt worden war. Zwar wurde § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG ohne Übergangsregelung eingeführt, mit der Folge, dass seit 1. April 2008 die Beschwerde gegen Kostengrundentscheidungen nach § 193 SGG generell ausgeschlossen ist. Der allgemeine Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts, wonach eine Änderung des Verfahrensrechts grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten erfasst, erfährt jedoch aus den in Rechtssicherheit und Vertrauensschutz liegenden Gründen des in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) verankerten Rechtsstaatsprinzips in Fällen ohne ausdrückliche gegenteilige Regelung eine Ausnahme dahingehend, dass bereits rechtshängige Rechtsmittel statthaft bleiben, auch wenn das Rechtsmittel nachträglich beschränkt wird (Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631/90 und 2 BvR 1728/90 -, zitiert nach juris Rn. 42 ff.; vgl. auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2008 - L 32 B 758/08 AS -, zitiert nach juris Rn. 2).
Die Beschwerde ist begründet. Nachdem die Klägerin den Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 6. August 2007 für erledigt erklärt und die Beklagte sich der klägerischen Erledigungserklärung der Sache nach in ihrem Kostenan...