Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Prozesskostenhilfe. Erledigung der Hauptsache. Bewilligungsreife. Rechtsschutzgleichheit
Leitsatz (amtlich)
1. Würde Prozesskostenhilfe im Fall der Erledigung der Hauptsache trotz Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags und trotz im Zeitpunkt der Bewilligungsreife hinreichender Erfolgsaussicht nicht gewährt, stünden Unbemittelte stets vor dem Risiko, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren Erledigung Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen (Anschluss an BVerfG vom 16.4.2019 - 1 BvR 2111/17 = NVwZ-RR 2020, 137).
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist die Bewilligungsreife für einen Antrag auf Prozesskostenhilfe daher nicht regelmäßig von einer Stellungnahme der Gegenseite (bzw der Gelegenheit hierzu) abhängig.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. April 2021 aufgehoben.
Dem Kläger wird ab Antragstellung Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren S 55 AS 1027/21 vor dem Sozialgericht Berlin bewilligt und sein Prozessbevollmächtigter beigeordnet.
Raten oder Beträge aus dem Vermögen sind nicht zu zahlen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die am 28. April 2021 eingelegte Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. April 2021, mit dem dieses seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt hat, ist zulässig und begründet.
A. Der Beklagte bewilligte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit von Februar 2020 bis Januar 2021 i.H.v. 930.- € monatlich (Bescheid vom 7. Februar 2020). In der Annahme, der Kläger beziehe Einkünfte aus Untervermietung, stellte der Beklagte die Zahlungen an ihn vorläufig ein. Zugleich wies er darauf hin, dass die vorläufig eingestellten laufenden Leistungen unverzüglich nachgezahlt würden, soweit der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergebe, zwei Monate nach der vorläufigen Einstellung der Zahlung nicht mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werde (Schreiben vom 2. Juli 2020). Nachdem der Vermieter des Klägers Räumungsklage erhoben hatte, machte der Kläger am 12. Februar 2021 klageweise (S 55 AS 1027/21) und im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes (S 55 AS 999/21) die Zahlung der Leistungen für August 2020 bis Januar 2021, insgesamt 5.580.- €, gegenüber dem Beklagten geltend und gab an, keine Einkünfte aus Untervermietung erzielt zu haben. Gleichzeitig beantragte für beide Verfahren PKH.
Das Sozialgericht bat den Beklagten um Stellungnahme binnen einer Woche (im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes) bzw. binnen eines Monats (im Klageverfahren). Daraufhin teilte der Beklagte dem Kläger mit, die Leistungen für den Zeitraum August 2020 bis Januar 2021 (sowie eine Erhöhung des Regelbedarfs um 14.- € für Januar 2021) würden angewiesen. Das diesbezügliche Schreiben vom 17. Februar 2021 übersandte der Beklagte am Folgetag dem Sozialgericht und gab ein Kostengrundanerkenntnis (Schriftsatz vom 25. Februar 2021), jeweils im Verfahren S 55 AS 999/21 ER, ab. Diesen Rechtsstreit erklärte der Kläger in der Hauptsache für erledigt (Schriftsatz vom 23. Februar 2021), nahm das Kostengrundanerkenntnis des Beklagten an und den PKH-Antrag zurück (Schriftsatz vom 1. März 2021).
Im Klageverfahren nahm der Kläger „das Anerkenntnis des Beklagten“ an, erklärte das Verfahren in der Hauptsache für erledigt, beantragte, dem Beklagten „die Kosten des Verfahrens durch Beschluss aufzuerlegen“ und erinnerte an seinen PKH-Antrag (Schriftsatz vom 23. Februar 2021). Bereits zuvor hatte der Beklagte die Übernahme der außergerichtlichen Kosten des Klägers abgelehnt.
Das Sozialgericht hat die Bewilligung von PKH für das Klageverfahren abgelehnt, weil Entscheidungsreife frühestens mit der Erklärung des Beklagten vom 18. Februar 2021 eingetreten, das Rechtsschutzbedürfnis und somit auch die Erfolgsaussicht für die Klage jedoch unmittelbar mit dem Anerkenntnis des Beklagten entfallen sei.
I. Für die Bewilligung von PKH im sozialgerichtlichen Verfahren gelten nach § 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die PKH (mit Ausnahme von § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO) entsprechend. Gemäß § 114 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Bei der Prüfung der Erfolgsaussicht ist zu berücksichtigen, dass die Anwendung des § 114 ZPO dem aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz abzuleitenden verfassungsrechtlichen Gebot entsprechen soll, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen. Daher dürfen die A...