Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Beitragsbemessung bei hauptberuflich selbstständig erwerbstätigen freiwilligen Mitgliedern. vorläufiger Rechtsschutz gegen die Vollstreckung bestandskräftiger, offensichtlich rechtswidriger Beitragsbescheide. Verfassungsmäßigkeit. Rechtsschutzgarantie

 

Leitsatz (amtlich)

1. Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) gebietet es, vorläufigen Rechtsschutz gegen die Vollstreckung eines bestandskräftigen Bescheides zuzulassen, um verhindern zu können, dass er vollzogen wird, obwohl schon im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eindeutig zu erkennen ist, dass der belastende Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und deshalb dem betroffenen Versicherten im Hauptsacheverfahren ein Aufhebungsanspruch zusteht.

2. Ein Fall, in dem die Rechtswidrigkeit eines Beitragsbescheides evident ist, ist nur dann gegeben, wenn der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch auf Einstellung der Vollstreckung völlig unzweifelhaft besteht (Fallkonstellation 1) oder die Interessenlage zu Gunsten der Antragstellerin so eindeutig ist, dass eine Fortsetzung der Vollstreckung nicht in Betracht kommen darf (Fallkonstellation 2).

 

Orientierungssatz

Bei hauptberuflich selbstständig erwerbstätigen freiwilligen Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse darf eine Anpassung der Beitragshöhe an ein niedrigeres Einkommen erst und nur zum Beginn des auf die Vorlage des letzten (maßgeblichen) Einkommensteuerbescheids folgenden Monats vorgenommen werden (vgl BSG vom 2.9.2009 - B 12 KR 21/08 R = BSGE 104, 153 = SozR 4-2500 § 240 Nr 12).

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juli 2013 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juli 2013 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss - im Ergebnis zu Recht - den Antrag der Antragstellerin zurückgewiesen, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, bis zur (bestandskräftigen) Entscheidung über ihren Antrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X), der auf die Aufhebung des Beitragsbescheides vom 14. Juni 2012 gerichtet ist, diesen Bescheid zu vollstrecken.

1.) Bezogen auf das Begehren der Antragstellerin, die Antragsgegnerin vorläufig zur Unterlassung von Vollstreckungsmaßnahmen aus dem genannten Beitragsbescheid bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den von ihr gestellten Überprüfungsantrag zu verpflichten, erweist sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG zunächst als zulässig. Ungeachtet der Frage des richtigen Prüfungsstandorts (Rechtsschutzbedürfnis oder Anordnungsanspruch) steht der Zulässigkeit des Antrags insbesondere nicht entgegen, dass der Beitragsbescheid des Antragsgegners vom 14. Juni 2012, mit dem die Antragsgegnerin für die Zeit vom 01. November 2010 bis zum 29. Februar 2012 rückständige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung i.H.v. 5.522,80 € verlangt, bestandskräftig geworden ist (in diesem Sinne auch LSG Berlin-Brandenburg, 25. Senat, Beschluss vom 12. Februar 2009, L 25 AS 70/09 B ER). Auch wenn damit derzeit zwischen den Beteiligten nach § 77 SGG bindend feststeht, dass die Antragstellerin zur Zahlung der von der Antragsgegnerin geforderten Beiträge verpflichtet ist, bedeutet dies jedoch nicht, dass der Antragstellerin kein der vorläufigen Regelung fähiges Recht zur Seite stünde, eine Vollstreckung des bindenden Bescheides vorläufig zu unterbinden. Denn es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragstellerin bereits am 26. Juli 2012 bei der Antragsgegnerin beantragt hat, die Bestandskraft des Bescheides vom 14. Juni 2012 zu durchbrechen und die streitige Beitragsfestsetzung aufzuheben. Der diesen Antrag ablehnende Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Februar 2013, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2013, ist noch nicht bestandskräftig geworden, weil die Antragstellerin dagegen Klage (S 81 KR 1081/13) erhoben hat, über die noch nicht entschieden worden ist. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gebietet es, in Fällen wie dem vorliegenden, vorläufigen Rechtsschutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen eines bestandskräftigen Bescheides zuzulassen, um verhindern zu können, dass ein Beitragsbescheid von der Krankenkasse mit möglicherweise erheblichen, irreversiblen Folgen für den Versicherten vollzogen wird, obwohl schon im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eindeutig zu erkennen ist, dass der belastende Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und deshalb dem betroffenen Versicherten im Hauptsacheverfahren ein Aufhebungsanspruch zusteht. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes darf allerdings nicht so weit gehen, dass dadurch die Bestandskraft des Beitragsbescheides beseitigt würde; er ist deshalb - wie hier geschehen - auf die vorläufige Einstellung der Vollstreckung zu richt...

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