Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe für einen erwerbsfähigen Unionsbürger bei verfestigtem Aufenthalt
Orientierungssatz
1. Ein erwerbsfähiger Unionsbürger, der sich ausschließlich deshalb in Deutschland aufhält, um Deutsch zu lernen bzw. um seine deutschen Sprachkenntnisse zu verbessern und über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG verfügt, ist nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 von Leistungen des SGB 2 ausgeschlossen.
2. Als italienischer Staatsangehöriger kann er sich für den Bezug von Leistungen des SGB 2 nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens berufen. Dem steht der von der Bundesregierung am 19. 12. 2011 erklärte Vorbehalt nach Art. 16 Abs. b EFA entgegen.
3. Er ist aber als nach dem SGB 2 Ausgeschlossener bei Hilfebedürftigkeit dem System des SGB 12 zugewiesen (Anschluss BSG Urteil vom 3. Dezember 2015, B 4 AS 59/13 R). Diesem Personenkreis sind Leistungen nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB 12 im Ermessensweg zu erbringen. Im Fall eines verfestigten Aufenthalts von über sechs Monaten ist dieses Ermessen nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG in dem Sinn auf Null reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB 12 zu erbringen ist.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, S. 1 Nr. 4, § 8 Abs. 1-2; SGB XII §§ 21, 23 Abs. 1 Sätze 1, 3; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 2; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2; EFA Art. 1; EFA Art. 16 Abs. b; SGG § 86b Abs. 2 Sätze 2, 4, § 75 Abs. 2, 5; ZPO § 920 Abs. 2
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 02. Dezember 2015 aufgehoben.
Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt für den Monat Dezember 2015 in Höhe von 759,- Euro und für die Monate Januar bis Mai 2016 in Höhe von 764,- Euro monatlich, längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache, zu zahlen.
Der Beigeladene hat dem Antragsteller dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Denn statt seiner Verpflichtung zur einstweiligen Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) war der Beigeladene zur vorläufigen Erbringung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) im tenorierten Umfang zu verpflichten.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen wie auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -).
Ausgehend von diesen Grundsätzen sind dem Antragsteller vorläufig Leistungen zuzusprechen.
Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II für die Gewährung von Arbeitslosengeld II hat der 1966 geborene Antragsteller italienischer Staatsangehörigkeit, dem der Antragsgegner zuvor Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01. Juni 2015 bis zum 30. November 2015 bewilligt hatte (Bescheid vom 08. Mai 2015 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 01. und 17. Juni 2015), für die Zeit ab dem 01. Dezember 2015 glaubhaft gemacht. Der Antragsteller ist erwerbsfähig. Seiner Erwerbsfähigkeit stehen weder körperliche (§ 8 Abs. 1 SGB II) noch rechtliche (§ 8 Abs. 2 SGB II) Gründe entgegen. Der Antragsteller hat außerdem laut seinen Angaben bei der Antragstellung auf Arbeitslosengeld II am 13. April 2015 seit Dezember 2013 se...