Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Verschuldenskosten. Auferlegung von Verfahrenskosten auf die Behörde wegen unterlassener Ermittlungen im Verwaltungsverfahren. intertemporales Prozessrecht. Unanwendbarkeit von § 192 Abs 4 SGG bei bereits vor dem 1.4.2008 abgeschlossenem Verwaltungsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

§ 192 Abs 4 SGG ist nicht auf Streitsachen anzuwenden, bei denen das Verwaltungsverfahren vor dem 1.4.2008 abgeschlossen wurde.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. Mai 2010 aufgehoben.

Der Beschwerdegegner trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Gründe

Die am 15. Juni 2010 eingegangene Beschwerde der beklagten Rentenversicherung gegen die Auferlegung von Gutachter- und Dolmetscherkosten durch den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. Mai 2010 ist zulässig und begründet.

Nach § 192 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der seit dem 1. April 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444, 447) kann das Gericht durch einen gesonderten Beschluss der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass sie erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Ob die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, kann dahingestellt bleiben. Die Vorschrift ist jedenfalls auf die vorliegende Klage, die bereits am 25. März 2008 erhoben wurde, nicht anwendbar. Das Bundessozialgericht hat zwar in seiner Rechtsprechung an dem in allen Prozessordnungen geltenden Grundsatz festgehalten, dass Änderungen des Prozessrechts beim Fehlen von abweichenden Übergangsbestimmungen auch laufende Verfahren erfassen. Dabei hat es aber stets betont, dass die Anwendung dieses Grundsatzes unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes steht. Diese beinhalten insbesondere, dass ein Verfahrensbeteiligter ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung nicht nachträglich einem Kostenrisiko ausgesetzt werden kann, das bei Beginn des Prozesses noch nicht gegeben war (Urteil vom 30. Januar 2002, B 6 KA 12/01 R; Urteil vom 31. April 1993, 14a RKa 6/92; Urteil vom 30. März 1993, 3 RK 1/93).

Nach dieser Maßgabe ist davon auszugehen, dass § 192 Abs. 4 SGG nicht auf Streitsachen anzuwenden ist, bei denen das Verwaltungsverfahren - wie im vorliegenden Rechtsstreit - vor dem 1. April 2008 abgeschlossen wurde (so auch Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. Januar 2012, L 5 AS 228/11 B; Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 16. März 2009, L 1 B 201/08 U; abweichend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. August 2009, L 4 KR 108/09 B). Das folgt insbesondere aus dem Zweck der Regelung, die Verwaltung vor dem Hintergrund der möglichen Kostenfolge zu sorgfältigen Ermittlungen anzuhalten, die bei den Gerichten zu Entlastungseffekten führen (so ausdrücklich BT-Drucksache 16/7716, S. 23). Dieser Zweck kann bei Verwaltungsverfahren, welche bereits vor Inkrafttreten der Regelung abgeschlossen waren, nicht mehr erreicht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Beteiligten - Rentenversicherung und Land (Sozialgerichtsfiskus) - genießen keine Kostenfreiheit nach § 183 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI3291517

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