Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. einstweiliger Rechtsschutz. Nachbesetzungsentscheidung. Nachrangregelung des § 103 Abs 4c S 3 SGB 5. Nichtanwendbarkeit bei mehrheitlich von Kapitalinvestoren geführten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ). Bestandsschutzregel des § 103 Abs 4 S 4 SGB 5
Leitsatz (amtlich)
Die Nachrangreglung des § 103 Abs. 4c Satz 3 SGB V ist nicht anwendbar, wenn sich bei der Auswahl des Praxisnachfolgers zwei medizinische Versorgungszentren gegenüberstehen, bei denen die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte nicht bei den dort tätigen Ärzten liegt. Dies gilt auch dann, wenn eines der medizinischen Versorgungszentren die Voraussetzungen der Bestandsschutzregelung des § 103 Abs. 4c Satz 4 SGB V erfüllt.
Orientierungssatz
Nach Auffassung des Senates spricht Überwiegendes dafür, dass die Nachrangregelung des § 103 Abs 4c S 3 SGB 5 auf die vorliegende Konstellation, in der sich zwei mehrheitlich von Kapitalinvestoren geführte MVZ gegenüberstehen, nicht anwendbar ist, und dass ein Nachrang vorliegend daher auch nicht aus der Bestandsschutzregel des § 103 Abs 4 S 4 SGB 5 folgen kann.
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juli 2023 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen zu 1 bis 6, die ihre Kosten selbst zu tragen haben.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 227.646 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss vom 10. Juli 2023, mit dem das Sozialgericht es abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen S 87 KA 350/23 beim Sozialgericht Berlin anhängigen Klage gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 25. Januar 2023 anzuordnen, hat keinen Erfolg.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft (§ 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) sowie form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 173 Satz 1 SGG). Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht davon abgesehen, gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Zur Begründung verweist der Senat auf die zutreffenden und in jeder Hinsicht überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts im Beschluss vom 10. Juli 2023 (vgl. §§ 142 Abs. 2 Satz 3, 153 Abs. 2 SGG).
Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren rechtfertigt keine andere Beurteilung. Hierzu ist lediglich ergänzend auszuführen:
1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Beschluss des Antragsgegners vom 25. Januar 2023 ist formell ordnungsgemäß. Der Antragsgegner hat das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung im Beschluss vom 25. Januar 2023 ausreichend i.S.v. § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG begründet. Insoweit bedarf es einer schlüssigen, konkreten und substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus der Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist (vgl. Pawlita in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 97 SGB V, Stand: 5. Juni 2023, Rn. 107; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. Mai 2021, L 11 KA 58/19 B ER, zitiert nach juris, Rn. 53 f.). Die Begründung kann knapp ausfallen; überspitzte Anforderungen an die formelle Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung dürfen nicht gestellt werden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juli 2019, L 24 KA 30/19 B ER, zitiert nach juris, Rn. 49).
Diesen Anforderungen genügt der Beschluss vom 25. Januar 2023 nach Auffassung des Senats ohne Zweifel. Der Antragsgegner hat im Beschluss vom 25. Januar 2023 darauf hingewiesen, dass die Versorgung der Patienten ohne die sofortige Vollziehung nicht genügend gewährleistet sei und hierzu - einzelfallbezogen und substantiierend - auf die Stellungnahme der Beigeladenen zu 1 vom 25. März 2022 zum Antrag auf Nachbesetzung verwiesen. In dieser Stellungnahme hat die Beigeladene zu 1 ausgeführt, dass die Praxis in den Quartalen IV/2019 bis III/2021 zu 99 Prozent ausgelastet gewesen sei, eine volle Nachbesetzung durchgeführt werden solle und der Versorgungsgrad die Nachbesetzung in Anbetracht der „Versorgungsrelevanz“ der Praxis nicht hindere. Es ist jedenfalls schlüssig, mit dieser hohen Auslastung und Versorgungsrelevanz ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung der Nachbesetzungsentscheidung zu begründen. So hat etwa die Antragstellerin mit Schreiben an den Antragsgegner vom 24. Januar 2023 selbst geltend gemacht, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entscheidung des Antragsgegners nach den §§ 97 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG zur Versorgung der Versicherten dringend geboten sei, und sie hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung in der Sitzung des Berufungsausschusses selbst beantragt.
2. Die im Rahmen des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG vom Gericht eigenständig vorzunehmende Interessenabwägung fällt - auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens - zu Last...