Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss niederländischer Staatsangehöriger. Anwendbarkeit des Europäischen Fürsorgeabkommens. Rechtszeitigkeit der Erklärung eines Vorbehalts gegen die Anwendung neuer Rechtsvorschriften nach der Wiener Vertragsrechtskonvention und dem Europäischen Fürsorgeabkommen
Orientierungssatz
1. Der allein auf der Arbeitsuche beruhende Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II gilt nicht für die Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA - juris: EuFürsAbk). Das EFA ist unmittelbar geltendes Bundesrecht, das weder von den Vorschriften des SGB II noch vom Recht der Europäischen Union verdrängt wird.
2. Niederländer haben aufgrund des Gleichbehandlungsgebotes des Art. 1 EFA grundsätzlich Anspruch auf Fürsorgeleistungen nach § 20 SGB II.
3. Der von der Bundesregierung zum 19.12.2011 erklärte Vorbehalt hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB II ist unwirksam, da er nicht im Sinne der Vorschriften des Art. 2 Abs. 1 d) der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK - juris: VtrRKonv) und des Art. 16 b EFA erfolgte, so dass ein zulässiger Vorbehalt nicht vorliegt und die Vorschriften des EFA weiterhin anwendbar sind, entgegen LSG Berlin-Potsdam, Beschluss vom 07. Mai 2012 - L 29 AS 1244/12 B ER.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. Mai 2012 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts, mit der er verpflichtet worden ist, dem Antragssteller im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig ab dem 29. Mai 2012 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten der Unterkunft (KdU) und Heizung in Höhe von 511,39 Euro monatlich zu gewähren, ist zulässig aber unbegründet.
Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens des Antragsgegners ein § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erfüllt.
Die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld 2 nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) sind ab dem 29. Mai 2012, dem Datum des angefochtenen Beschlusses, gegeben, denn der am 1970 geborene, erwerbsfähige Antragsteller hat glaubhaft gemacht, seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus zu berücksichtigendem Einkommen oder Vermögen sichern zu können (§§ 7, 8, 9 SGB II). Ihm waren zuletzt mit Bescheid vom 30. August 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich KdU und Heizung für die Zeit vom 01. Oktober 2011 bis zum 31. März 2012 bewilligt worden. Es ist nicht erkennbar, dass sich seitdem die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers wesentlich geändert haben. Es ist zudem glaubhaft, dass der Antragsteller seit dem 01. November 2008 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch in der Bundesrepublik Deutschland hat. Dass er sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits aus der am 08. Januar 2009 ausgestellten Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU), die bisher nicht von der Ausländerbehörde eingezogen worden ist. Eine Aufenthaltserlaubnis ist nicht mehr erforderlich (§ 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU).
Der Antragsteller ist nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von den Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Er ist als niederländischer Staatsangehöriger Ausländer, hält sich länger als drei Monate in der Bundesrepublik auf (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II) und ist nicht leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II). Er ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Auf ein anderes Aufenthaltsrecht nach § 2 FreizügigkeitsG/EU, das den Leistungsausschluss bereits aus diesem Grund entfallen lassen würde, hat sich die Antragstellerin nicht berufen. Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein anderes Aufenthaltsrecht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 FreizügigkeitsG/EU mit Ausnahme der Arbeitssuche in Nr. 1 2. Alt. der Vorschrift vorliegen könnte. Insbesondere sieht er sich nicht in der Lage, die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügigkeitsG/EU im einstweiligen Rechtsschutzverfahren abschließend zu beurteilen.
Der allein auf der Arbeitssuche beruhende Leistungsausschluss gilt jedoch nicht für die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11. Dezember 1953 (EFA), zu denen u. a. die Bundesrepublik Deutsc...