Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Pflegeversicherung. Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege. kein Zurücktreten gegenüber Grundpflege
Leitsatz (amtlich)
1. Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege tritt nicht gegenüber der Grundpflege zurück, wenn eine besondere Pflege geleistet wird, die besondere Qualifikationen voraussetzt, auch wenn dabei normale (Grund-) Pflegeleistungen miterbracht werden.
2. Der vom 3. Senat des BSG aufgestellte Grundsatz des regelmäßigen Zurücktretens der Behandlungspflege gegenüber der Grundpflege ist weder ein Rechtssatz zur Auslegung des einfachen Rechts, noch gibt er eine allgemeinkundige Tatsache wieder.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juli 2008 wird abgeändert.
Die Antragsgegnerin wird als Krankenkasse im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 1. November 2008 bis 30. April 2009 Beatmungspflege als Behandlungspflege im Umfang von 24 Stunden täglich als Sachleistung so zu gewähren, dass der Antragsteller nicht - wie bisher - gegenüber dem oder den die Pflege konkret leistenden Pflegeunternehmen zur Zahlung eines Eigenanteiles bzw. eines weiteren Kostendeckungsbeitrages hierfür und/oder für Grundpflege im Sinne des Sozialgesetzbuches 11. Buch verpflichtet ist oder wird.
Weist die Antragsgegnerin dem Antragsteller nicht bis 31. Oktober 2008 die Sicherstellung dieser Verpflichtung durch Übersendung der Vereinbarung mit dem Pflegedienst oder den Pflegediensten nach, hat sie ab 1. November 2008 bis 30. April 2009 den Antragsteller von den diesem für 24h-Behandlungspflege entstehenden Kosten in Höhe von bis zu 28,50 € pro Stunde einstweilen freizustellen. Dies gilt auch, soweit mit der Behandlungspflege gleichzeitig Grundpflege verbunden ist.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller dreiviertel seiner außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Gründe
I.
Der 1934 geborene Antragsteller begehrt im Wege einstweiliger Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung von Behandlungspflege im Umfang von 24 Stunden täglich für die Zeit vom 1. Juli 2008 bis 30. Juni 2009 bzw. Erstattung der ihm insoweit bislang entstandenen und Freistellung von noch entstehenden Behandlungskosten.
Er leidet unter anderem an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) mit motorischer Tetraplegie und wird seit über einem Jahr tracheotomiert und überwiegend maschinell beatmet. Eine ständige Beatmung ist erforderlich, wobei allerdings Phasen der Spontanatmung bestehen. Er bedarf ständiger sogenannter Beatmungspflege. Dabei sind die Vitalparameter zu erheben und zu überwachen, die Beatmungsmaschine und die Spontanatmung zu überwachen um Störungen und Problemsituationen zu erkennen und notfalls bei Ausfall der Maschine und anderen Komplikationen die Beatmung von Hand vorzunehmen. Der Pflegedienst muss ferner das Tracheostoma pflegen und versorgen, Bronchialsekret abzusaugen, Trachealsekret gewinnen zur toxikologischen Kontrolle. Schließlich muss die Trachealkanüle gepflegt und gewechselt werden. Dass die Überwachung und Sicherstellung der Atemfunktion erforderlich ist, hat der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) gutachterlich festgestellt.
Der MDK hat auch festgestellt, dass der Antragsteller Leistungen der Grundpflege im zeitlichen Umfang von 441 Minuten am Tag benötigt (Pflegestufe III und Härtefall).
Der Pflegedienst ig GmbH schrieb unter Übersendung des Antrages an die Antragsgegnerin unter dem Datum 20. Juni 2007, entsprechend der Vereinbarung mit dieser entstünden für die Betreuung Kosten in Höhe von 28,50 € pro Stunde, wobei ein durch das Gutachten des MDK bestimmter Anteil (501 Minuten/täglich) durch die Pflegekasse bzw. den Patienten zu übernehmen wäre.
Die Antragsgegnerin beschied den Antrag auf Kostenübernahme für eine 24-Stunden-Behandlung zunächst mit Bescheid vom 11. Juli 2007. Vom Kostenträger Krankenkasse sei die Leistung Behandlungspflege kalendertäglich in Höhe der anfallenden Kosten von 444,72 € voll zu übernehmen, vom Kostenträger Pflegekasse die Leistung Grundpflege und hauswirtschaftliche Verrichtungen von den anfallenden 239,52 € Kosten pro Tag oder 7.185,60 € monatlich jedoch nur “bis zu 1.918,00„ €. Eine Rechtsmittelbelehrung enthielt der Bescheid nicht.
Zwischen dem Antragsteller und dem Pflegedienst ig GmbH besteht der Vertrag vom 31. Juli 2007 über “Leistungen der Pflege-, der hauswirtschaftlichen Versorgung sowie über ergänzende Leistungen„. Als Leistungsumfang ist dort (lediglich) häusliche Krankenpflege nach § 37 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) gemäß aktueller ärztlicher Verordnung und Krankenkassengenehmigung vereinbart. Unter § 6 Abs. 3 heißt es: “Zahlt die Pflegekasse, Krankenkasse oder ein anderer Kostenträger nicht oder nur einen Teilbetrag, so verpflichtet sich der Leistungsnehmer/Leistungsnehmerin zur Privatzahlung der verbleibenden Kosten in Höhe der zwischen (dem Pflegedienst) und dem jeweiligen Kostenträger für diese Leistung vereinbarten ...