Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Arbeitnehmereigenschaft. Schwangerschaft. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB 12. Verfassungsmäßigkeit. Erbringung vorläufiger Leistungen durch den Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende

 

Orientierungssatz

1. Die Tatsache, dass eine Schwangerschaft eine Frau zwingt, die Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit aufzugeben, ist grundsätzlich nicht geeignet, ihr die “Arbeitnehmereigenschaft„ im Sinne von Art 45 AEUV abzusprechen (vgl EuGH vom 19.6.2014 - C-507/12 = NZA 2014, 765).

2. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB 12 verfassungskonform ist.

3. Der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist zwar für die Erbringung von Sozialhilfe nicht zuständig, jedoch zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes unter Rückgriff auf die Wertung des § 43 Abs 1 S 2 SGB 1 zur Erbringung vorläufiger Leistungen verpflichtet.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Januar 2019 geändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit ab 8. Dezember 2018 bis 30. April 2019, für Dezember 2018 entsprechend anteilig, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit der Maßgabe zu gewähren, dass der Leistungsbewilligung 80 vom Hundert des gesetzlichen Regelsatzes zugrunde zu legen ist. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der Antragstellerin wird für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten bewilligt.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen ist sie nicht begründet und war zurückzuweisen. Die erlassene Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergeht dem Grunde nach (vgl § 130 Abs. 1 SGG analog) und war bis längstens 30. April 2019 zu begrenzen.

Für den ausgeworfenen - und beantragten - Zeitraum ab 8. Dezember 2018 bis längstens 30. April 2019 sind ein Anordnungsanspruch und auch ein Anordnungsgrund dargetan, soweit die Antragstellerin, die die portugiesische Staatsangehörigkeit besitzt, Regelleistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) begehrt, und zwar unter Berücksichtigung eines Regelleistungssatzes iHv 80 vH der gesetzlichen Regelleistungen. Nach ständiger Rspr des erkennenden Senats ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der geltend gemachten Regelbedarf iSv § 20 Abs. 1 SGB II regelmäßig nur iHv 80 vH zu berücksichtigen, weil er nur in diesem Umfang unabweisbar ist (vgl Bundesverfassungsgericht ___AMPX_)_SEMIKOLONX___XBVerfG___AMPX_(_SEMIKOLONX___X, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Mai 2010 - L 5 AS 797/10 B ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. September 2007 - L 20 B 75/07 SO ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 - L 7 SO 5672/ 06 B ER - alle juris). Soweit die Antragstellerin mit ihrem Antrag auf Leistungen “in gesetzlicher Höhe„ auch solche für Kosten der Unterkunft und Heizung geltend macht, fehlt es indes an einem Anordnungsgrund iS eines zur Vermeidung unaufschiebbarer Nachteile unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses. Denn die wohnungslose Antragstellerin ist derzeit auf Kosten des Beigeladenen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz in einem Wohnheim untergebracht.

Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz - wie hier im Hinblick auf die konkreten Umstände des mWv 13. September 2018 aufgenommenen und zum 21. Oktober 2018 gekündigten Beschäftigungsverhältnisses - im gerichtlichen Eilverfahren untunlich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange der Antragstellerin umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz - GG - iVm dem Sozialstaatsprinzip), ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (Bundesverfassungs...

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