Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität. Anwendung des Leistungsausschlusses auch bei Fehlen eines materiellen Aufenthaltsrechts nach dem FreizügG/EU 2004. Ausschluss auch von Sozialhilfeleistungen
Leitsatz (amtlich)
Ausschluss vom Leistungsbezug und SGB 2 für Unionsbürger, die keine Arbeit suchen, über keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und keine ausreichenden Existenzmittel verfügen oder noch kein Daueraufenthaltsrecht haben.
Orientierungssatz
1. Lässt sich ein Aufenthaltsrecht allenfalls aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 Nr 1a FreizügG/EU 2004) ableiten, so greift der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2. Dieser Leistungsausschluss steht auch im Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben (vgl EuGH vom 11.11.2014 - C-333/13 = NJW 2015, 145). Er verletzt auch nicht Art 45 Abs 2 AEUV.
2. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 greift auch für den Fall, dass der Hilfebedürftige ggf tatsächlich keine Bemühungen zur Arbeitsuche entfaltet.
3. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 gilt auch in allen Fällen, in denen kein materielles Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU 2004 festgestellt werden kann, weil insoweit die Anspruchsvoraussetzungen in § 7 Abs 1 S 1 SGB 2 für die Gewährung von Leistungen um die ungeschriebene Anspruchsvoraussetzung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts zu erweitern sind.
4. Art 3 Abs 1 GG dürfte verletzt sein, wenn Unionsbürger, die sich lediglich formal erlaubt im Bundesgebiet aufhalten, leistungsrechtlich besser gestellt würden als diejenigen, die ein materielles Aufenthaltsrecht besitzen.
5. Unionsbürger die insofern dem Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 unterfallen, sind auch von den Sozialhilfeleistungen des SGB 12 ausgeschlossen (Anschluss an LSG Berlin-Potsdam vom 10.12.2014 - L 20 AS 2697/14 B ER).
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. Dezember 2014 geändert.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Den Antragstellern wird für das Verfahren vor dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt G F, P, B, beigeordnet.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1989 geborene, verheiratete Antragstellerin zu 1) und ihr 2011 geborener Sohn, der Antragsteller zu 2) sind italienische Staatsbürger. Nach eigenen Angaben lebt die Antragstellerin zu 1) seit Oktober 2013 von ihrem Ehemann getrennt. Sie reiste nach eigenen Angaben im November 2012 nach Deutschland ein und bildete zunächst mit ihrem Ehemann (bis zur Trennung) und dem Antragsteller zu 2) eine Bedarfsgemeinschaft. Seit August 2013 besucht der Antragsteller zu 2) eine Kindertagesstätte. In der Zeit vom 26. Februar 2014 bis 27. März 2014 ging die Antragstellerin zu 1) einer geringfügigen Beschäftigung in dem Eiscafé C nach. Mit Bescheid vom 27. Mai 2014 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern aufgrund eines von der Antragstellerin zu 1) erstmals ausschließlich für sich und den Antragsteller zu 2) gestellten Antrages vorläufig Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Mai 2014 bis 31. August 2014 in Höhe von 1.137,76 € und für die Zeit vom 1. September bis 27. September 2014 in Höhe von 1.023,98 €. In der Zeit von November 2013 bis Mitte Juni 2014 besuchte die Antragstellerin zu 1) einen Sprach- und Integrationskurs. Im Anschluss daran begann sie einen weiteren Kurs (Berufsdeutsch B 2+). Seit dem 28. September 2014 ist sie Inhaberin einer Reisegewerbekarte, um auf Märkten als Verkäuferin zu arbeiten. Für den Antragsteller zu 2) erhält die Antragstellerin zu 1) Kindergeld.
Am 16. September 2014 beantragte die Antragstellerin zu 1) erneut für sich und den Antragsteller zu 2) bei dem Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II. Darin gab sie an, seit dem 28. September 2014 einer selbständigen Tätigkeit im Reisegewerbe nachzugehen. Laut eingereichter Erklärung zum vorläufigen Einkommen aus selbständiger Tätigkeit erwarte sie im September 2014 keinen Gewinn, von Oktober 2014 bis Dezember 2014 Verluste von monatlich 6,- €, im Januar 2015 einen Gewinn von 94,- € und im Februar 2015 einen Gewinn von 44,- €.
Mit Bescheid vom 6. Oktober 2014 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung ab, die Antragsteller seien gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die Antragstellerin zu 1) habe ein Aufenthaltsrecht in Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche. Aus ihrer Selbständigkeit könne sie in Anbetracht des angegebenen Gewinns kein Freizügigkeitsrecht herleiten.
Dagegen erhob die Antragstellerin zu 1) am 13. Oktober 2014 (Eingangsdatum) Widerspruch. Sie sei auf die Leistungen dringe...