Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsberechtigter. gewöhnlicher Aufenthalt im Inland. Unabhängigkeit von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. nicht bei ausdrücklicher Erklärung fehlender Arbeitsbereitschaft. Zusammenarbeit mit der Ausländerbehörde. Hinwirken auf Vollzug der Ausreisepflicht
Leitsatz (amtlich)
1. In den Fällen des strukturellen Sozialleistungsmissbrauchs - hier Aufenthalt von EU-Ausländern ohne Freizügigkeitsrecht zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen - besteht ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II bis zur Vollziehung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen. Diese politisch unerwünschte Folge hat ihre Ursache zum einen in der gesetzlichen Regelung im SGB 2, die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts einen rechtmäßigen Aufenthalt nicht voraussetzt und zum anderen in einer nicht ausreichenden Zusammenarbeit zwischen Jobcenter und Ausländerbehörde beim Gesetzesvollzug.
2. Im Anschluss an die Rechtsprechung des 4. Senats (Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 34) des Bundessozialgerichts, nach der der gewöhnliche Aufenthalt iS des § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 2 rein tatsächlich zu bestimmen ist, steht auch das offensichtliche Fehlen eines Freizügigkeitsrechts eines EU-Ausländers der Bejahung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht entgegen.
3. EU-Ausländer, die weder zur Arbeitsuche eingereist sind noch ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht von einem arbeitenden Angehörigen geltend machen können, sondern Sozialleistungen zur Integration in Anspruch nehmen wollen, erfüllen bis zum Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen der Ausländerbehörde bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt.
4. Der europarechtlich umstrittene Ausschluss arbeitsuchender EU-Ausländer von SGB 2-Leistungen in § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 greift schon tatbestandlich dann nicht, wenn der Ausländer erklärt, nicht arbeiten zu wollen und die eine entsprechende Verpflichtung enthaltende Eingliederungsvereinbarung nicht unterschreibt.
5. Eine erweiternde Auslegung dieser Ausschlussnorm, nach der der Leistungsausschluss bereits dann greift, wenn der rechtmäßige Aufenthalt fiktiv allein mit der Arbeitsuche begründet werden könnte, ist mit dem Wortlaut und Sinn und Zweck der Norm kaum vereinbar, systematisch nicht erforderlich und angesichts der europarechtlichen Bedenken gegen die Norm nicht vertretbar.
6. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts betreffende Ausschlussgründe enthält das SGB 2 zumindest nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG nicht (mehr).
7. Die fehlende subjektive Verfügbarkeit im Sinne einer Arbeitsbereitschaft hat keine Bedeutung für die Anspruchsvoraussetzungen des Arbeitslosengelds II (Anschluss an BSG vom 29.3.2007 - B 7b AS 4/06 R).
8. Eine Gesetzes- oder Regelungslücke liegt dennoch nicht vor, da dem hier vorliegenden strukturellen Sozialleistungsmissbrauch durch ausländerrechtliche Maßnahmen zu begegnen ist. Sollten diese wegen Inanspruchnahme von Rechtsschutz nicht sofort greifen, ist dies aus rechtsstaatlichen Gründen hinzunehmen.
9. Eine nicht ausreichend institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Ausländerbehörde und Jobcenter beim Gesetzesvollzug begründet weder eine Regelungslücke in den rechtssystematisch einwandfrei verzahnten Gesetzen und erst recht nicht die Notwendigkeit einer extensiven Auslegung einer Ausnahmevorschrift, die europarechtlich erheblichen Bedenken begegnet.
Tenor
Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 08. Mai 2013 abgeändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 10. September 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05. Dezember 2012 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern zu 1) und 2) Leistungen in Höhe von 1.076,16 Euro monatlich für die Zeit vom 01. September bis 31. Dezember 2012 zu gewähren.
Der Beklagte trägt zwei Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger zu 1) und 2) begehren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 01. September bis 31. Dezember 2012; die Klägerin zu 3) hat die Berufung im Termin vom 06. März zurückgenommen.
Die 1953 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind spanische Staatsangehörige und seit August 2011 in Deutschland. Sie verfügen über eine vom Bezirksamt Neukölln von Berlin am 11. Oktober 2011 ausgestellte Bescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU). Sie bewohnten zunächst zusammen mit ihrem 1983 geborenen Sohn J R M M und ihrer 1992 geborenen Tochter, der Klägerin zu 3), eine 64 m² große Dreizimmerwohnung in der G in B zu einer Bruttowarmmiete von monatlich 580,00 Euro (Nettomiete 320,- zuzüglich Betriebskostenvorauszahlung 115,- und Heizkostenvorauszahlung in Höhe vo...