Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. kein Ersatz von Rechtsanwaltskosten für die vorprozessuale Geltendmachung der Verzögerungsentschädigung. unangemessene Verfahrensdauer. Verfahren zur Kostengrundentscheidung als eigenständiges Gerichtsverfahren. Anhörungsrüge als unselbstständiges Annexverfahren. Vorbereitungs- und Bedenkzeit. 3 Monate für Kostengrundentscheidung. 3 Monate für Anhörungsrügeverfahren. 3 Monate für Befangenheitsverfahren. Zeiten im Corona-Lockdown. Unwirksamkeit einer verfrühten Verzögerungsrüge. keine nachträgliche Heilung. vorprozessuale Anerkennung des Entschädigungsanspruchs. kein (weiterer) Feststellungsausspruch durch das Entschädigungsgericht
Leitsatz (amtlich)
§§ 198 ff GVG idF des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV - juris: ÜberlVfRSchG)
Das Verfahren zur Herbeiführung der Kostengrundentscheidung stellt ein selbständiges Verfahren iSd § 198 Abs 6 Nr 1 GVG dar.
Eine Anhörungsrüge setzt kein selbständiges Verfahren iSd § 198 Abs 6 Nr 1 GVG in Gang (Anschluss an BSG vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 14).
Für ein Verfahren zur Herbeiführung der Kostengrundentscheidung steht den Gerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit im Umfang von drei Monaten zu.
Für ein Anhörungsrügeverfahren ist den Gerichten eine zusätzliche Vorbereitungs- und Bedenkzeit von in der Regel drei Monaten zuzubilligen und dies unabhängig davon, auf was für eine gerichtliche Entscheidung sich die Anhörungsrüge bezieht.
Eine Verzögerungsrüge kann erstmals zulässigerweise erhoben werden, wenn aus der ex-ante-Perspektive eines vernünftigen Dritten in der Person des Klägers/der Klägerin die konkrete Möglichkeit einer Verzögerung besteht. Eine vor diesem Zeitpunkt verfrüht erhobene Rüge ist wirkungslos und geht ins Leere. Eine verfrüht erhobene Rüge wird auch nicht nachträglich wirksam, wenn im Nachgang die konkrete Möglichkeit einer Verzögerung besteht (Anschluss an LSG München vom 6.12.2018 - L 8 SF 185/17 EK - RdNr 64 ff).
Orientierungssatz
1. Rechtsanwaltskosten für die vorgerichtliche Geltendmachung einer Verzögerungsentschädigung sind (auch im Falle der Selbstvertretung) in der Regel kein zu ersetzender Vermögensnachteil iSd § 198 Abs 2 S 1 GVG (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 17.2.2021 - L 37 SF 123/20 EK AS und vom 17.2.2021 - L 37 SF 55/20 EK AS).
2. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats, dass ein Kläger durch ein Befangenheitsgesuch verursachte Phasen der Nichtbearbeitung des Verfahrens hinzunehmen hat, jedenfalls soweit es in dem Befangenheitsverfahren seinerseits nicht zu mehr als drei Monaten der gerichtlichen Inaktivität kommt (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 24.11.2016 - L 37 SF 288/13 EK SO).
3. Die Entscheidung des Gerichts, im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme zunächst nicht weitere Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich noch seiner Entscheidungsprärogative und ist - mit Ausnahme unvertretbarer oder schlechthin unverständlicher Wartezeiten - durch das Entschädigungsgericht nicht als Verfahrensverzögerung zu bewerten (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R = BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16).
4. Der Senat sieht es durchaus als erwägenswert an, dem Sozialgericht im Hinblick auf die angesichts der Corona-Pandemie eingetretenen Einschränkungen bei der Arbeit in den Monaten März bis Mai 2020 eine weitere Vorbereitungs- und Bedenkzeit einzuräumen.
5. Der sogenannte "kleine Entschädigungsanspruch" (Wiedergutmachung auf andere Weise nach § 198 Abs 2 S 2 und Abs 4 S 1 GVG) ist bereits erfüllt, wenn seitens des zuständigen Gerichtspräsidenten in irgendeiner Form eine Anerkennung der Verfahrensüberlänge erfolgte und das Bedauern hierüber zum Ausdruck gebracht wurde. Eine gerichtliche Feststellung der Überlänge kommt daneben nicht mehr in Betracht.
Tenor
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der - als Rechtsanwalt zugelassene und sich sowohl im streitgegenständlichen als auch im Entschädigungsverfahren selbst vertretende - Kläger begehrt eine Entschädigung in Höhe von 1.200,00 € wegen überlanger Dauer des Verfahrens zur Herbeiführung der Kostengrundentscheidung in dem vor dem Sozialgericht B unter dem Aktenzeichen S 171 AS 9934/17 anhängig gewesenen Rechtsstreit und des sich anschließenden Anhörungsrügeverfahrens (S 171 AS 11783/18 RG) sowie eine Entschädigung für die mit der außergerichtlichen Geltendmachung verbundenen Rechtsanwaltskosten.
Dem abgeschlossenen Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der seinerzeit ergänzende Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehende Kläger erhob Ende Juli 2017 vor dem Sozialgericht B Klage gegen einen Bescheid das Jobcenters Charlottenburg-Wilmersdorf und begehrte die Gewährung höherer Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch für die Monate März bis August 2017 unter Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen Warmwassera...