Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Honorarverteilungsmaßstab. Kassenärztliche Vereinigung Berlin. Neuberechnung des Individualbudgets bei Patientenübernahme nach Praxisschließung im näheren Umfeld
Leitsatz (amtlich)
Eine "Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im Umfeld" eines Vertragsarztes im Sinne von § 9 Abs 9 HVM/Berlin ist auch gegeben, wenn die Praxis des Vertragsarztes sich am Stadtrand befindet und die Praxisschließung im stadtnahen Brandenburger Umland erfolgt ist; sie kann bei erfolgter Patientenübernahme zum Anspruch auf Neuberechnung des Individualbudgets führen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Berlin vom 28. Juni 2006 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Individualbudget des Klägers in den Quartalen III/2003 bis II/2004. Umstritten ist dabei, ob die Übernahme von Patienten aus der geschlossenen Praxis eines anderen KV-Bereichs dazu führen kann, das Individualbudget des die Patienten übernehmenden Vertragsarztes nach § 9 Abs. 9 Honorarverteilungsmaßstab (HVM) zu erhöhen.
Der Kläger nimmt seit 1986 als Neurologe und Psychiater an der fachärztlichen Versorgung teil. Er betreibt seine Facharztpraxis in B. Nach dem seit 1. Juli 2003 geltenden HVM der Beklagten erhalten alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Psychotherapeuten für punkzahlbewertete Leistungen ein Punktzahlvolumen (Individualbudget), bis zu dem eine Vergütung mit einem festen Punktwert gesichert sein soll. Grundlage für die Berechnung des Budgets sind im Wesentlichen die individuellen Umsätze in den Quartalen I bis IV/2002.
Im Juli 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Hinweis auf eine Praxisschließung im benachbarten F (B) und die Übernahme von Patienten die Erhöhung seines Individualbudgets ab dem Quartal III/2003. Der in F tätige Nervenarzt war zuletzt im Quartal IV/2002 tätig und rechnete insgesamt 674 Fälle ab. In der näheren Umgebung in Brandenburg war kein weiterer Nervenarzt tätig, die nächstgelegene Praxis befand sich in P. Die Nachbesetzung der Praxis in F erfolgte im August 2003 mit einer Fachärztin für Psychiatrie. Im Juli bzw. September 2004 erfolgten in F zwei weitere Zulassungen von Nervenärzten.
Mit Bescheid vom 26. November 2003 und Widerspruchsbescheid vom 26. April 2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil sie die Voraussetzungen für eine Ausnahmeregelung nicht als gegeben ansah. Die Versorgung von Brandenburger Patienten müsse die dortige Kassenärztliche Vereinigung sicherstellen. Für das Individualbudget des Klägers müsse die Behandlung von Brandenburger Patienten in Folge einer dortigen Praxisschließung ohne Auswirkungen bleiben.
Mit Urteil vom 28. Juni 2006 gab das Sozialgericht Berlin der hiergegen erhobenen Klage statt und verurteilte die Beklagte zur Neuberechnung des klägerischen Individualbudgets für die Quartale III/2003 bis II/2004. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Im Sinne von § 9 Abs. 9 HVM sei es zu einer Praxisschließung im näheren Umfeld des Klägers gekommen, denn F und der Praxissitz des Klägers seien nur 9 km von einander entfernt. In Folge der Übernahme von Patienten sei ein atypischer Einzelfall gegeben, der es gebiete, eine Neuberechnung des Individualbudgets vorzunehmen, zumal die Behandlung von Brandenburger Patienten unstreitig in die Bemessung des Individualbudgets eingeflossen wäre, wenn sie bereits im Jahre 2002 erfolgt wäre. Zudem erhalte die Beklagte insoweit einen Fremdkassenzahlungsausgleichs (FKZ). Die nun konkret vorzunehmende Bemessung des klägerischen Individualbudgets für die streitigen Quartale werde sich an den Fallzahlsteigerungen und den vom Kläger eingereichten Patientenlisten orientieren müssen.
Gegen das ihr am 3. August 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. August 2006 erhobene Berufung der Beklagten. Das Urteil des Sozialgerichts verkenne die Systematik des FKZ und widerspreche dem Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten. Zahlungen, die die Beklagte aus dem FKZ erhalte, dürften nicht an den Kläger im Wege der Erhöhung seines Individualbudgets weitergereicht werden; dieses Ansinnen werde der Struktur und der Komplexität des FKZ, der von einem fiktiven Punktwert ausgehe, nicht gerecht. Eine Erhöhung des Individualbudgets des Klägers hätte zur Folge, dass das Einkommen sämtlicher Ärzte seiner Fachgruppe sänke; es sei aber nicht einzusehen, warum sämtliche Ärzte der Berliner Fachgruppe die Behandlung von Brandenburger Patienten, die über den Sicherstellungsauftrag der Beklagten hinausgehe, durch eine Kürzung ihrer Vergütung mitfinanzieren sollten. Die Praxisschließung im benachbarten Bundesland müsse für die Beklagte ohne jede Relevanz bleiben, da sie sich ansonsten in den Sicherstellungsauftrag der anderen Kassenärztlichen Vereinigung einmische. Soweit es um ...