Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Verlust der männlichen Geschlechtsorgane nach gewollter und erfolgreicher Mann-zu-Frau-Geschlechtsumwandlung. Verlust der sexuellen Erlebnisfähigkeit. Impotentia coeundi bei Männern. keine Anerkennung einer analogen GdB-Bewertung für Frauen. kein GdB für fehlende Libido und Orgasmusunfähigkeit. keine Gesichtsentstellung bei "zu männlichen Gesichtszügen" einer Transfrau. Erheblichkeitsschwelle. Blickfang im Alltag. psychisches Leiden. kombinierte Persönlichkeitsstörung. schwere Störung. Abgrenzung zwischen mittelgradigen und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Bluthochdruck. hypothetische Einstellbarkeit. Weigerung der Einnahme verordneter Medikamente
Leitsatz (amtlich)
1. Die Frage, ob "mittelgradige" und "schwere" soziale Anpassungsschwierigkeiten vorliegen, stellt sich im Rahmen von Teil B Nr 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV überhaupt nur, wenn eine schwere psychische Störung vorliegt.
2. Zur Auslegung der Begriffe "leichte", "mittelgradige" und "schwere" soziale Anpassungsschwierigkeiten können die vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales am Beispiel des "schizophrenen Residualzustandes" entwickelten Abgrenzungskriterien herangezogen werden.
3. Eine Frau kann nach Genital-Operation (Mann zu Frau) regelmäßig nicht nach Teil B Nr 13.1 und Nr 13.2 der Anlage zu § 2 VersMedV einen Einzel-GdB für den Verlust des Penis mit vollständiger Entfernung der Corpora cavernosa und den Verlust beider Hoden beanspruchen. Denn der Verlust des Penis mit vollständiger Entfernung der Corpora cavernosa bzw der Verlust beider Hoden bzw das Nichtvorhandensein dieser ist für eine Frau kein Körper- und Gesundheitszustand, der von dem für das Lebensalter typischen Zustand - einer durchschnittlichen Frau - abweicht.
Orientierungssatz
1. Fehlende Libido und Orgasmusunfähigkeit bedingen keinen Grad der Behinderung.
2. Für eine (analoge) Zuerkennung einer Impotentia coeundi (welche beim männlichen Geschlecht gemäß Teil B Nr 13.2 VMG nach erfolgloser Behandlung mit einem GdB von 20 bewertet wird) auch für das weibliche Geschlecht besteht insoweit kein Raum, weil diese nur die Fähigkeit betrifft, den Beischlaf überhaupt in physiologischer Weise auszuführen.
3. "Zu männliche Gesichtszüge" bei einer (Trans-)Frau sind keine Gesichtsentstellung iS von Teil B Nr 2.1 VMG, weil diese keine körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung darstellen, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar machen und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führen.
4. Im Rahmen der GdB-Bewertung kann berücksichtigt werden, dass die Funktionsstörung (hier Bluthochdruck nach Teil B Nr 9.3 VersMedV) befriedigend einzustellen wäre, wenn der behinderte Mensch die ihm verordneten Medikamente einnehmen würde.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. Mai 2018 wird zurückgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100.
Die 1961 geborene Klägerin beantragte am 30. Juli 2013 die Feststellung eines GdB und machte unter anderem geltend, sie leide unter den Folgen einer Genital-Operation (Mann zu Frau) mit Beseitigung des Penis, der Glans und der Hoden, einer Entstellung durch Haarausfall, einem Bluthochdruck, Stress, einer Erschöpfung, Müdigkeit, Schlafproblemen, Durchfall, Ekzemen, einer Achillodynie, Schmerzen der Sehnenansätze und der Fußsohle, einer Atrophie des Hippocampus sowie einem Fehlen der Zähne 3-7 und 3-5. Aus einem im Widerspruchsverfahren überreichten Operationsbericht vom 8. September 1992 ergibt sich, dass bei der Klägerin am 7. September 1992 aufgrund der Diagnose eines Mann-zu-Frau-Transsexualismus eine Kastration und Penisamputation mit Bildung einer Neovagina mit Neuimplantation der Urethra erfolgt ist.
Der Beklagte holte einen Befundbericht des M V vom 5. August 2013 ein. Dort war die Klägerin zwischen dem 8. März 2013 und dem 14. Juni 2013 insgesamt sechsmal vorstellig unter anderem wegen rezidivierenden Harnwegsinfekten und subjektiv empfundenen Herzrhythmusstörungen. Der Beklagte ließ diesen Befundbericht versorgungsärztlich auswerten und lehnte mit Bescheid vom 29. November 2013 die Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung ab, da kein GdB von wenigstens 20 festgestellt werden könne.
Mit Widerspruchsschreiben vom 17. Dezember 2013 führte die Klägerin aus, bereits der Verlust der Hoden bedinge einen GdB von wenigstens 20 bis 30. Dabei sei es unerheblich, aus welchem Grund sie die Hoden verloren habe. Des Weiteren leide sie unter einer Gesichtsentstellung. Eine einfache Gesichtsentstellung, die nur wenig störend sei, ...