Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. fachwissenschaftlicher Konsens iS der Off-label-Use-Rechtsprechung des BSG. Zulassung des Arzneimittels Ritalin für bestimmte Personengruppen. Nichtübertragbarkeit der BVerfG-Rechtsprechung auf Erwachsene mit ADHS
Leitsatz (amtlich)
Von fachwissenschaftlichem Konsens iS der Off-label-Use-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt; letzteres ist derzeit für die Behandlung der adulten ADHS noch der Fall.
Orientierungssatz
1. Das Arzneimittel Ritalin ist zwar ein iS der Krankenversicherung verordnungsfähiges Arzneimittel, jedoch beschränkt sich seine Zulassung auf die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose ADHS und auf die Therapie von Narkolepsie bei Erwachsenen.
2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = BVerfGE 115, 25 lässt sich auf den Fall einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Erwachsenenalter nicht übertragen, da diese Erkrankung trotz ihrer spürbaren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Februar 2006 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten für das Arzneimittel Ritalin mit dem Wirkstoff Methylphenidat außerhalb seines zugelassenen Anwendungsbereichs.
Der im Jahre 1976 geborene Kläger leidet nach den Feststellungen des behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie Jan einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Erwachsenenalter.
Nach eigenen Angaben leidet der Kläger dadurch u.a. an leichter Ablenkbarkeit, Unruhe, Impulsivität, Konzentrationsstörungen und Desorganisation. Der behandelnde Neurologe und Psychiater verordnete dem Kläger - wie zuvor schon der Kinderarzt - das den Wirkstoff Methylphenidat enthaltende Medikament Ritalin. Arzneimittelrechtlich sind dieses Medikament sowie die übrigen Medikamente mit diesem Wirkstoff lediglich zur Therapie der ADS/Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern sowie zur Therapie von Narkolepsie bei Erwachsenen zugelassen.
Am 19. Juni 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme bzw. Erstattung von Kosten für selbst beschafftes Ritalin. Er sei hierauf erfolgreich eingestellt, seine Lebensqualität sei damit spürbar gestiegen. Andere Medikamente habe er ohne Erfolg ausprobiert. Eine effektive Psychotherapie sei erst unter der Medikamention mit Ritalin möglich geworden. Dazu legte er ein Attest seines behandelnden Neurologen und Psychiaters vor. Dem Antrag beigefügt waren zwei ärztliche Verordnungen des Medikaments Ritalin vom 26. Mai 2003 und vom 24. Juni 2003.
Die Beklagte holte eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) vom 24. Juni 2003 ein. Darin stellte der MDK (Ärztin B) fest, eine Kostenübernahme sei vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Einsatz von Arzneimitteln außerhalb ihrer Zulassungsindikation nicht möglich.
Mit Bescheid vom 30. Juni 2003 lehnte die Beklagte, gestützt auf die vorgenannte Stellungnahme des MDK, den Antrag des Klägers ab. Den Widerspruch wies sie unter Berücksichtigung einer ergänzenden Stellungnahme des MDK vom 12. August 2003 mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2003 (Eingang beim Kläger am 22. Dezember 2003) zurück: Zwar möge der Kläger unter einer seine Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung leiden. Ritalin sei jedoch für die fragliche Indikation nicht zugelassen. In der Fachwelt bestehe kein Konsens zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen mit methylphenidathaltigen Präparaten. Es mangele an positiven Arzneimittelstudien höherer Evidenzklasse. Die höchstrichterlich formulierten Anforderungen an die Verordnung eines nicht zugelassenen Arzneimittels zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung seien damit nicht erfüllt.
Mit seiner zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger zunächst die Erstattung von 622,04 Euro beantragt, die er bis zur Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides von Juni bis Dezember 2003 für die Beschaffung von Ritalin aufgewandt hatte. Im Laufe des Klageverfahrens hat er die Forderung auf sämtliche Beträge erweitert, die er seit der erstmaligen Verordnung von Ritalin am 26. Mai 2003 aufzuwenden hatte (2.292,13 Euro bis zum Tag der mündlichen Verhandlung am 21. Februar 2006) und auch Kostenübernahme für die Zukunft beantragt.
Mit Urteil vom 21. Februar 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Methylphenidathaltige Medikamente seien zwar für die Behandlung der Erkrankung bei Kindern bzw. zur Behandlung der so genannten N...