Entscheidungsstichwort (Thema)
Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln ≪ hier Intraglobin bei Multipler Sklerose≫ in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. kein Verschuldenserfordernis im Rahmen von Honorarkürzungen oder Verordnungsregressen. Off-label-use. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Ein Verschuldenserfordernis besteht im Rahmen von Honorarkürzungen oder Verordnungsregressen gem § 106 SGB 5 nicht (vgl BSG vom 6.5.2009 - B 6 KA 3/08 R [Wobe Mugos E]). Zu unterscheiden ist zwischen dem verschuldensabhängigen Begriff des sonstigen Schadens und dem verschuldensunabhängigen Verordnungsregress wegen Unwirtschaftlichkeit.
Orientierungssatz
1. Für die Verordnung des Immunglobulins Intraglobin zur Behandlung Multipler Sklerose besteht auch nach den Grundsätzen über den Off-Label-Use von Arzneimitteln keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.
2. Auch bei einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage liegt kein Verfassungsverstoß vor, wenn die Leistungspflicht einer Krankenkasse im Rahmen der zulassungsüberschreitenden Anwendung eines Arzneimittels mit der Begründung verneint wird, nach den vorliegenden Erkenntnissen lägen keine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse vor, aus denen sich hinreichende Erfolgsaussichten für den begehrten Off-Label-Use ableiten ließen (vgl BVerfG vom 30.6.2008 - 1 BvR 1665/07).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 2006 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen Arzneimittelregress in Höhe von 7.006,80 Euro wegen der Verordnung von Intraglobin F für die Patientin F K zur Behandlung Multipler Sklerose.
Ausweislich der Fachinformation (Stand Dezember 2001) ist Intraglobin F für folgende Anwendungsgebiete zugelassen:
Substitutionstherapie bei Primären Immunmangelsyndromen wie:
|
- Kongenitale Agammaglobulinämie und Hypogammaglobulinämie, |
- Allgemeine variable Immunmangelkrankheiten, |
- Schwere kombinierte Immunmangelkrankheiten, |
Myelom oder chronisch-lymphatische Leukämie mit schwerer sekundärer Hypogammaglobulinämie und rezidivierenden Infektionen,
Kinder mit angeborenem AIDS und rezidivierenden Infektionen,
Immunmodulation,
Idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP) bei Kindern oder Erwachsenen mit einem hohen Blutungsrisiko oder vor chirurgischen Eingriffen zur Korrektur der Thrombozytenzahl,
Kawasaki-Syndrom,
Allogene Knochenmarktransplantation.
Im Juli 2002 stellte die Beigeladene zu 2), bei der die Patientin F K krankenversichert war, bei der Beigeladenen zu 1) einen Antrag auf Feststellung eines sonstigen Schadens gemäß § 14 der Prüfvereinbarung vom 1. Oktober 1993, unter anderem wegen der Verordnung von Intraglobin bei der Versicherten. Der Forderungsbetrag belief sich auf 13.704,11 DM (7.006,80 Euro) wegen der Verordnung von Intraglobin am 25. Januar 2001, 22. Februar 2001 und 22. März 2001. Im Rahmen ihrer Anhörung trug die Klägerin im September 2002 unter anderem vor, die Patientin K habe an einer schubförmig verlaufenden fokalen Multiplen Sklerose mit Begleitautoimmunphänomenen wie etwa einem Visusverlust gelitten. Die Gabe von Immunglobulinen sei bei ihr indiziert gewesen, weil eine Alternativtherapie ausgeschlossen gewesen sei. Wegen des Vorhandenseins von Kardiolipin-Antikörpern habe eine Interferontherapie nicht durchgeführt werden können; zudem habe die Patientin seinerzeit einen starken Kinderwunsch gehabt, so dass eine Therapie mit Imurek bei ihr nicht in Betracht gekommen sei. Das neue Medikament Copaxone sei damals für die Behandlung von Multipler Sklerose nicht zugelassen gewesen. Auf Anforderung des Prüfungsausschusses reichte die Klägerin außerdem einen “Dokumentationsbogen bei Verordnung von Immunglobulinen zur MS-Therapie als Anlage zum Eckpunktepapier der Berliner Krankenkassen mit Vertretern der Berliner Nervenärzte„ zu den Akten (“schubförmig remittierende MS, Intraglobin 3 x 10 g als Erhaltungstherapie„).
Mit Bescheid vom 4. Juni 2003 setzte der Prüfungsausschuss für die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin gemäß § 14 der Prüfvereinbarung eine Schadensersatzverpflichtung der Klägerin unter anderem für die Verordnung von Intraglobin bei der Patientin F K in Höhe von 13.704,11 DM (7.006,80 Euro) fest. Einen indikationsgerechten Einsatz des Immunglobulinpräparates könne der Ausschuss nicht erkennen. Gegenwärtig gebe es keine Studienlage, die die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Immunglobulinen in der Therapie der Multiplen Sklerose bei Kinderwunsch, Schwangerschaft und im Wochenbett absichere.
Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass eine Alternativtherapie bei der Patientin im fraglichen Zeitraum nicht in Betracht gekommen sei. Von den Gaben des...