Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Wegfall der Ermächtigungsgrundlage einer untergesetzlichen Norm. kein Einfluss auf Rechtswirksamkeit von Detailregelungen der Arzneimittel-Richtlinie. Gemeinsamer Bundesausschuss. Verordnung fixer Wirkstoffkombinationen. Bewertung als unwirtschaftlich und unzweckmäßig. Feststellungsklage. Geltendmachung von fehlerhafter Auslegung oder Anwendung einer untergesetzlichen Rechtsnorm. Klagebefugnis eines Arzneimittelherstellers. Vereinbarkeit der Anl III Nr 38 AM-RL mit höherrangigem Recht
Leitsatz (amtlich)
1. Die Änderung oder der Wegfall der Ermächtigungsgrundlage einer untergesetzlichen Norm berühren nicht per se deren Rechtswirksamkeit; so werden auch die Detailregelungen der Arzneimittel-Richtlinien nicht durch jede Korrektur des Gesetzgebers am Wortlaut der Ermächtigungsnorm gegenstandslos.
2. Der Beklagte (hier: Gemeinsamer Bundesausschuss) darf für den Regelfall davon ausgehen, dass Verordnungen fixer Wirkstoffkombinationen medizinisch problematisch sind, dies als unwirtschaftlich bzw unzweckmäßig bewerten und die Verordnungsfähigkeit beschränken; anderes gilt nur, wenn der Zusatznutzen des Kombinationspräparats wissenschaftlich belegt ist.
Orientierungssatz
1. Aufgrund der Notwendigkeit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes kann mit einer fachgerichtlichen Feststellungsklage nach den §§ 29 Abs 4 Nr 3, 55 Abs 1 Nr 1 SGG nicht nur die Unwirksamkeit einer untergesetzlichen Rechtsnorm, sondern auch deren fehlerhafte Auslegung oder Anwendung sowie ein Anspruch auf deren Änderung geltend gemacht werden (vgl BSG vom 14.12.2011 - B 6 KA 29/10 R = BSGE 110, 20 = SozR 4-2500 § 92 Nr 13).
2. Ein Verordnungsausschluss berührt einen Arzneimittelhersteller in seinem Grundrecht auf freie Berufsausübung aus Art 12 Abs 1 GG. Er ist deshalb auch klagebefugt.
3. Nr 38 der Anlage III der AM-RL (juris: AMRL) in den beiden seit dem 1.4.2009 geltenden Fassungen ist mit § 92 Abs 1 S 1 Halbs 1 und 3 SGB 5 aF vereinbar. Des Weiteren spricht viel dafür, dass Nr 38 der Anlage III der AM-RL in der seit dem 6.8.2011 geltenden Fassung sogar den - aus Sicht des Gemeinsamen Bundesausschusses - strengeren Regelungen in § 92 Abs. 1 und 2 SGB 5 nF stand hält.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen den Verordnungsausschluss für Otobacid® N Ohrentropfen.
Die Klägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen und Herstellerin der verschreibungspflichtigen Otobacid® N Ohrentropfen, Lösung. Die Arzneimittelzulassung erstreckt sich auf “entzündliche Erkrankungen des Ohres, wie insbesondere Entzündung des Gehörgangs und Gehörgangsekzem, bakteriell-entzündliche Erkrankung der Ohrmuschel, Begleitbehandlung der akuten Mittelohrentzündung (neben Antibiotika, abschwellenden Nasentropfen usw.)„. Als arzneilich wirksame Bestandteile enthalten Otobacid® N Ohrentropfen das Corticosteroid Dexamethason 1,12 mg, das Lokalanästhetikum Cinchocainhydrochlorid 28,12 mg, das Antiseptikum Butan-1,3-diol 2698,64 mg sowie als sonstigen Bestandteil Glycerol (Fachinformation mit Stand 08/2010).
Nach Nr. 38 der Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) in der seit 1. April 2009 geltenden Fassung (Beschluss des Beklagten vom 18. Dezember 2008/22. Januar 2009) i.V.m. § 16 Abs. 1 bis 3 der AM-RL sind von der Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen
“Otologika - ausgenommen Antibiotika oder Corticosteroide bei Entzündungen des äußeren Gehörganges„.
Mit Beschluss vom 19. Mai 2011 (Einleitung des Stellungnahmeverfahrens mit Beschluss vom 10. August 2010, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 5. August 2011) änderte der Beklagte Nr. 38 der Anlage III der AM-RL, die seitdem folgenden Wortlaut hat:
“Otologika
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ausgenommen Antibiotika und Corticosteroide auch in fixer Kombination untereinander zur lokalen Anwendung bei Entzündungen des äußeren Gehörganges |
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ausgenommen Ciprofloxacin zur lokalen Anwendung als alleinige Therapie bei chronisch eitriger Entzündung des Mittelohrs mit Trommelfelldefekt (Trommelfellperforation)„ |
(Schon) mit Schreiben vom 19. Februar 2010 wandte die Klägerin sich an den Beklagten und bat um Klarstellung - auch gegenüber den Kassenärztlichen Vereinigungen -, dass Verordnungsfähigkeit für Otologika bei Entzündungen des äußeren Gehörganges auch dann bestehe, wenn - wie bei Otobacid® N - neben einem Corticosteroid auch andere Wirkstoffe enthalten seien, die nicht unter die in Nr. 38 der Anlage III der AM-RL genannten zwei Wirkstoffgruppen fielen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und - ihr folgend - die Kassenärztlichen Vereinigungen verträten nämlich in fehlerhafter Auslegung von Nr. 38 der Anlage III der AM-RL eine andere Auffassung und hielten Otobacid® N für nicht verordnungsfähig, weil es kein Monopräparat sei, da es neben dem Corticosteroid noch ein Lokalanästhetikum enthalte (Hinweis auf die Veröffentlichung der KBV “Fragen-und-Antworten-Katalogzur Anlage III„un...