Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. vorprozessuale Anerkennung einer Entschädigung. tenorgleiche Feststellung der monatsgenauen Überlänge durch die Justizverwaltung. Bindung des Entschädigungsgerichts an die zuerkannte Verzögerungszeit als Mindestgrenze. Verböserungsverbot. Kostenfestsetzungs- und PKH-Vergütungsfestsetzungsverfahren. Vorbereitungs- und Bedenkzeit von drei Monaten. Wiedergutmachung auf andere Weise. Kosteninteresse des Rechtsanwalts. Organ der Rechtspflege. strukturelle Überlastung des Gerichts. Erforderlichkeit der Geldentschädigung. Unbilligkeit. Halbierung der Entschädigungspauschale. Prozesszinsen. Fristbeginn. Klagefrist. geringfügige Überschreitung von 6 Monaten ab Übersendung der Entscheidung
Leitsatz (amtlich)
1. Wird im vorprozessualen Verfahren für den späteren Beklagten in Anlehnung an § 198 Abs 4 S 1 GVG die Unangemessenheit der Verfahrensdauer ausdrücklich festgestellt und dabei angegeben, in welchem Umfang von einer Verzögerung ausgegangen wird, ist insoweit von einem Bindungswillen auszugehen. Für den Entschädigungssenat besteht dann kein Raum mehr, seiner weiteren Prüfung eine Verzögerung in geringerem Umfang zugrunde zu legen.
2. Für ein Kostenfestsetzungs- und ein PKH-Vergütungsfestsetzungsverfahren steht jeweils eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von drei Monaten zur Verfügung (Fortführung der Rechtsprechung des Senats vom 17.2.2021 - L 37 SF 55/20 EK AS = juris RdNr 32 und L 37 SF 156/20 EK SF = juris RdNr 33).
3. Ob bei PKH-Vergütungs- und Kostenfestsetzungsverfahren die Wiedergutmachung auf sonstige Weise ausreichend ist oder die Gewährung einer finanziellen Entschädigung geboten ist, hängt vom Einzelfall ab (hier: Notwendigkeit einer finanziellen Entschädigung bejaht).
4. Liegen dem Entschädigungsanspruch PKH-Vergütungsfestsetzungs- oder Kostenfestsetzungsverfahren zugrunde, kann es angemessen sein, den in § 198 Abs 2 S 3 GVG vorgesehenen Regelbetrag zu halbieren.
5. Prozesszinsen sind in analoger Anwendung des § 187 Abs 1 BGB ab dem auf den Eintritt der Rechtskraft folgenden Tag zu zahlen.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz 1: Abgrenzung zu BSG vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R = BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22 RdNr 27.
2. Für die Klagefrist des § 198 Abs 5 S 2 GVG kann es unschädlich sein, wenn zwischen der Übersendung der verfahrensabschließenden Entscheidung (hier: Festsetzungsbeschlüsse) und dem Eingang der Entschädigungsklage ein paar Tage mehr als sechs Monate liegen (hier: ua Zeit zwischen 29.4. und 5.11.), selbst wenn nicht genau feststeht, wann die gerichtliche Entscheidung dem Kläger bekannt gegeben worden ist.
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen überlanger Dauer der PKH-Vergütungsfestsetzungs- bzw. Kostenfestsetzungsverfahren in den vor dem Sozialgericht Potsdam unter
dem Aktenzeichen geführten Verfahren |
eine Entschädigung in Höhe von |
zzgl. 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem |
S 45 AS 37/16 |
650,00 € |
01. Dezember 2021 |
S 50 R 296/16 |
300,00 € |
01. Dezember 2021 |
S 44 AS 1317/16 |
900,00 € |
31. März 2022 |
S 25 AS 2183/16 |
400,00 € |
01. Dezember 2021 |
S 51 AS 2316/16 |
300,00 € |
01. Dezember 2021 |
S 44 AS 781/18 |
450,00 € |
01. Dezember 2021 |
S 44 AS 816/18 |
450,00 € |
01. Dezember 2021 |
S 40 AS 1625/19 ER |
500,00 € |
01. Dezember 2021 |
insgesamt |
3.950,00 € |
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zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens haben der Kläger und der Beklagte je zur Hälfte zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger - ein Rechtsanwalt - begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer von sieben Prozesskostenhilfe- (PKH-)vergütungs- und einem Kostenfestsetzungsverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Potsdam.
Den Ausgangsverfahren lagen folgende Sachverhalte zugrunde:
1. Im Verfahren S 45 AS 37/16 erhob der Kläger am 08. Januar 2016 für drei Mandantinnen Klage gegen ein Jobcenter und rügte die Anrechnung tatsächlich nicht zugeflossenen Unterhaltsvorschusses. Mit Beschluss vom 12. Mai 2016 bewilligte das SG PKH unter seiner Beiordnung. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 05. September 2019 erklärte der Kläger den Rechtsstreit nach einem gerichtlichen Hinweis im Namen seiner Mandantinnen für erledigt.
Am 02. Oktober 2019 beantragte er die Festsetzung der PKH-Gebühren auf 869,20 €. Im Hinblick auf u.a. begehrte 43,75 € für 175 Kopien aus den Verwaltungsakten forderte das SG mit Schreiben vom 17. Oktober 2019 seine Handakte, hilfsweise eine Kopie derselben an. Am 07. November 2019 unterrichtete der Kläger das SG, dass er die Verwaltungsakten vollständig abgelichtet habe.
Am 14. August 2020 erkundigte er sich, wann mit einer Entscheidung über seinen Antrag zu rechnen sei, woraufhin das SG ihm am 10. September 2020 mitteilte, dass es aufgrund personeller Engpässe zu einem Rückstau bei der Bearbeitung der Kostenfestsetzungsanträge gekommen sei und die Abarbeitung in zeitlicher Reihenfolge des Eingangs der Kostenanträge erfolge. Derzeit würden Kostenanträge bis Dezember 2018 abschließend bearbeitet.
Am 16. März 2021 erhob d...