Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Statusentscheidung. Rückwirkende Feststellung. Besonderes Interesse. Offenkundiger Fall. Sicht eines unbefangenen, sachkundigen Beobachters. Objektiv gegebene Befundlage. Keine Einholung eines Rückschlussgutachtens. GdB. Beschränkung auf offenkundige Fälle

 

Orientierungssatz

1. Bei der Feststellung des GdB handelt es sich um eine Statusentscheidung, die prinzipiell in die Zukunft wirkt und nach § 6 Abs 1 S 1 SchwbAwV lediglich deshalb auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück zu beziehen ist, um den schwerbehinderten Menschen durch die Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht unzumutbar zu belasten.

2. Für eine weitergehende Rückwirkung ist nach Maßgabe von § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV nur dann Raum, wenn der Betroffene ein besonderes Interesse für eine frühere Statusentscheidung glaubhaft machen kann. Eine solche Rückwirkung muss jedoch auf offenkundige Fälle beschränkt werden (zur Rücknahme eines Feststellungsbescheides vgl BSG vom 29.5.1991 - 9a/9 RVs 11/89 = BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 07.04.2011; Aktenzeichen B 9 SB 3/10 R)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2007 getroffene Kostenentscheidung bleibt hiervon unberührt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100, hilfsweise 50, ab dem 1. Mai 2000.

Der 1945 geborene Kläger ist Arzt für Biochemie. Auf Veranlassung der ihn seit Jahren behandelnden Internistin/Kardiologin Priv.-Doz. Dr. P wurde er wegen einer unklaren gastrointestinalen Blutung mit peranalen Blutabgängen und zunehmendem Schwächegefühl und Leistungsknick am 4. April 2002 im Unfallkrankenhaus Berlin aufgenommen. Dort wurde bei ihm ein mindestens 10 x 10 cm großer gastrointestinaler Stromatumor (GIST) oberhalb des Blasendaches diagnostiziert und am 17. April 2002 exstirpiert. Am 29. April 2002 wurde der Kläger ohne spezielle Therapieempfehlung aus der stationären Behandlung entlassen und im Anschluss durch die Internistin Dr. P sowie die Internistin Dr. L ambulant weiter betreut. Überdies unterzog sich der Kläger nach seiner Krankenhausentlassung regelmäßigen MRT-Kontrollen sowie sonstigen Untersuchungen, bei denen immer wieder Metastasen und Rezidive festgestellt wurden, die zu weiteren Krankenhausaufenthalten und weiteren operativen Eingriffen führten. Seit dem 1. Januar 2007 bezieht der Kläger eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit Abschlägen.

Am 5. Dezember 2006 beantragte der Kläger bei dem Beklagten erstmalig die Feststellung eines GdB rückwirkend für die Zeit ab dem 16. November 2000 und fügte diesem Antrag zahlreiche ärztliche Unterlagen aus der Zeit ab April 2002 bei. Der Beklagte holte Befundberichte der Internistin Dr. L sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. F vom 25. Januar 2007 ein und veranlasste eine gutachtliche Stellungnahme des Facharztes für Allgemeinmedizin B, der nach Auswertung der vorhandenen medizinischen Unterlagen am 5. März 2007 zu dem Ergebnis kam, dass bei dem Kläger eine Harnblasenerkrankung im Stadium der Heilungsbewährung gegeben sei, die die Zuerkennung eines GdB von 80 rechtfertige.

Auf der Grundlage dieser Einschätzung stellte der Beklagte mit seinem Bescheid vom 26. März 2007 wegen der genannten Behinderung einen GdB von 80 seit dem 1. April 2002 (Monat der Tumorentfernung) fest. Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, dass bei ihm keine Harnblasenerkrankung, sondern ein gesicherter metastasierender und rezidivierender GIST-Tumor bestehe, bei dem eine Heilungsbewährung nicht mehr zu erwarten sei. Dieser Tumor sei mit einem GdB von 100 zu bewerten, und zwar spätestens ab dem 1. Mai 2000. Denn wie sich aus dem Wachstumsverhalten des Tumors und der Metastasen sowie aus der Tatsache schließen lasse, dass er bereits seit Mai 2000 unter Teerstühlen gelitten habe, müsse der Tumor schon im Mai 2000 eine beträchtliche Größe gehabt haben. Zum Nachweis für die Richtigkeit dieser Behauptungen überreichte er Atteste der Internistinnen Dr. P und Dr. L vom 25. April 2007, in denen es u. a. heißt, dass er bereits seit Mai 2000 über vereinzelt auftretende Teerstühle geklagt habe (Dr. P) bzw. dass der Tumor bereits Mitte 2000 eine die Gesundheit beeinträchtigende Größe von etwa 5 - 7 cm gehabt haben müsse (Dr. L).

Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme der Internistin S vom 9. Mai 2007 gab der Beklagte dem Widerspruch mit seinem Widerspruchsbescheid vom 23. August 2007 insoweit statt, als er den GdB nunmehr wegen einer Dünndarmerkrankung, bei der von einer Heilungsbewährung nicht mehr auszugehen sei, auf 100 festsetzte. Im Übrigen wies er den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Feststellung eines GdB für die Zeit vor dem 1. April 2002 scheide aus, weil es insoweit an ausreic...

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