Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtsverfahren: Zulässigkeit der Annahme einer fiktiven Klagerücknahme bei unterlassener Klagebegründung trotz Aufforderung durch das Gericht in einer Betreibensaufforderung

 

Orientierungssatz

Eine Betreibensaufforderung durch das Sozialgericht genügt jedenfalls dann nicht als Grundlage für die Anwendung der fiktiven Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 SGG, wenn in der Betreibensaufforderung der Kläger lediglich zur Begründung der Klage aufgefordert wurde. Die Annahme einer fiktiven Klagerücknahme setzt vielmehr voraus, dass das Sozialgericht in der Betreibensaufforderung dem Kläger konkret mitteilt, welche Mitwirkungshandlungen erfolgen müssen, damit das Gericht den Rechtsstreit in der Sache entscheiden.

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 31. Januar 2011 aufgehoben.

Die Sache wird an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 70 sowie die Feststellung des Bestehens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens “aG„ (außergewöhnliche Gehbehinderung). Mit der Berufung wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Klagerücknahme.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 27. Dezember 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2001 stellte der Beklagte einen GdB von 20 auf Grund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:

- coronare Herzkrankheit, abgelaufener Herzinfarkt, PTCA und Stentimplantation (Einzel-GdB 20)

- chronische Magenschleimhautentzündung, Neigung zu Zwölffingerdarmgeschwüren (Einzel-GdB 20).

Auf den Antrag des Klägers vom 3. Februar 2009 bzgl. der Neubewertung des GdB und der Erteilung von Merkzeichen nebst Ergänzung vom 10. Juni 2009, mit dem der Kläger die Erteilung insbesondere des Merkzeichens “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) begehrte, stellte der Beklagte nach Beiziehung eines Befundberichtes des Arztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. T vom 24. Juli 2009 der gutachtlichen Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. K vom 27. August 2009 folgend mit Bescheid vom 3. September 2009 einen Gesamt-GdB von 50 fest, dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde liegen:

- abgelaufener Herzinfarkt, Herzmuskelerkrankung, coronare Herzkrankheit (Durchblutungsstörungen des Herzens), Herzrhythmusstörungen, Coronardilatation/Stent, Kardioverter Defibrillator, Feststoffwechselstörung (Einzel-GdB 50)

- chronische Magenschleimhautentzündung, Zwölffingerdarmgeschwürsleiden (Einzel-GdB 20)

- Funktionsbehinderungen des Schultergelenkes links (Einzel-GdB 10).

Gleichzeitig stellte der Beklagte fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens “G„ nicht vorlägen und auch weitere gesundheitliche Merkmale nicht festgestellt werden könnten. Den hiergegen am 22. September 2009 erhobenen, in der Sache trotz zweifacher Aufforderung des Beklagten nicht begründeten Widerspruch wies dieser mit Widerspruchsbescheid vom 30. Dezember 2009 zurück.

Der Kläger hat am 29. Januar 2010 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er die Feststellung eines Gesamt-GdB von mindestens 70 sowie die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens “aG„ begehrt hat.

Mit richterlicher Verfügung vom 23. Februar 2010 hat das Sozialgericht dem Prozessbevollmächtigten des Klägers Akteneinsicht gewährt und diesen aufgefordert, die angekündigte Klagebegründung binnen eines Monats nach Akteneinsichtnahme zu begründen. Mit richterlicher Verfügung vom 26. April 2010 hat das Sozialgericht an die Übersendung der Klagebegründung binnen Monatsfrist erinnert. Mit weiterer richterlicher Verfügung vom 9. Juni 2010, die dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 21. Juni 2010 zugestellt worden ist, hat das Sozialgericht diesen aufgefordert, das Verfahren zu betreiben und die in Aussicht gestellte Klagebegründung einzureichen. Gleichzeitig hat es in der Verfügung darauf hingewiesen, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als zurückgenommen gelte, wenn der Kläger das Verfahren trotz der Aufforderung des Gerichtes länger als drei Monate nicht betreibe. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 22. Juni 2010 mitgeteilt, dass mit der Aufforderung nach § 102 Abs. 2 SGG eine Klagebegründung nicht erzwungen werden könne, andernfalls die Klage als zurückgenommen gelte, ohne dass dem Kläger konkret aufgegeben werde, was er zu betreiben habe. Auf die richterliche Verfügung vom 24. September 2010 ist das Verfahren als erledigt ausgetragen worden und dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit gerichtlicher Verfügung vom 5. Oktober 2010 mitgeteilt worden, dass die Klage gemäß § 102 SGG ...

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