Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Hörgerät. Wirtschaftlichkeit. Festbetrag. wesentlicher Gebrauchsvorteil. Freiburger Sprachtest. Messtoleranz
Leitsatz (amtlich)
Bei der Hörgeräteversorgung Versicherter stellt sich ein besseres Sprachverstehen von 5 % ohne Störschall und von 2,5 % im Störschall gegenüber dem zuzahlungsfreien Gerät als wesentlicher Gebrauchsvorteil dar und ist nicht wegen Messtoleranzen als unwesentlich zu vernachlässigen.
Normenkette
SGB V § 12 Abs. 1-2, § 33 Abs. 1 S. 1 Alt. 3, §§ 36, 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6; HilfsMRL § 21 Abs. 2, 3 S. 2
Verfahrensgang
SG Cottbus (Gerichtsbescheid vom 04.04.2022; Aktenzeichen S 42 KR 197/21) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 4. April 2022 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2021 geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Versorgung mit dem Hörsystem „KINDduro 3410“ 1.816,30 Euro zu erstatten.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten einer beidseitigen Hörgeräteversorgung über den Festbetrag hinaus.
Die im März 1977 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet unter einer beidseitigen erheblichen Hörminderung. Die Klägerin beantragte am 16. Oktober 2020 bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine beidseitige Versorgung mit dem zuzahlungspflichtigen Hörgerät „KINDduro 3410“. Dem Antrag waren ein Kostenvoranschlag für die beidseitige Versorgung mit dem gewünschten Hörgerät über insgesamt 3.320,04 Euro und Protokolle der Hörgerätetestung beigefügt. Danach erzielte die Klägerin im Störschall ≪ 40 % ohne Hörgerät eine Sprachverständlichkeit von 45 %, mit dem gewünschten Gerät von 95 % und dem eigenanteilsfreien Gerät „KINDinicio 1400“ von 90 %. Sie erzielte mit 60dB Störschall eine Sprachverständlichkeit ohne Hörgerät von 25 %, mit dem gewünschten Gerät von 82,5 % und dem eigenanteilsfreien Gerät von 80 %.
Nach einem Telefonat mit der Klägerin und der Beratung über die Unterschiede der eigenanteilsfreien und kostenpflichtigen Versorgung bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 eine pauschale Kostenbeteiligung i.H.v. insgesamt 1.483,74 Euro. Sie erklärte, dass die Klägerin Mehrkosten bei der Entscheidung für ein Hörgerät mit Eigenanteil allein zu tragen habe. Dieses Schreiben enthielt keine Rechtsmittelbelehrung.
Mit Schreiben vom 3. Dezember 2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut die Übernahme der Gesamtkosten für die Hörgeräteversorgung. Die Beklagte wertete diesen Antrag als Widerspruch. Am 4. Dezember 2020 beschaffte sich die Klägerin die Leistung und vereinbarte mit dem Leistungserbringer eine Ratenzahlung über den - nach Abzug der von der Klägerin geleisteten Zuzahlung von 20,00 Euro - verbleibenden Restbetrag von 1.816,30 Euro.
Die Beklagte holte eine audiologische Auswertung der Versorgungsoptionen durch einen Hörakustikermeister ein. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, dass es aufgrund von anderen Regelungszeiten, Komfortmodi in der Bedienung und einer kleineren Bauweise nachvollziehbar sei, dass das gewählte Gerät subjektiv angenehmer erscheine. Jedoch seien dies Funktionen, die dem Komfort zuzuschreiben und nicht für einen objektiven Ausgleich erforderlich seien.
Sodann wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2021 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die angebotene eigenanteilsfreie Versorgung über die vom Gesetzgeber geforderten Mindestparameter verfüge und einen objektiven Ausgleich der Schwerhörigkeit ermögliche. Das aufzahlungspflichtige Gerät biete keine wesentlichen Gebrauchsvorteile gegenüber einem eigenanteilsfreien Modell. Die Differenz beim Sprachverständnis liege im Rahmen der Messtoleranz, da im normierten Freiburger Sprachtest ein Wort eine Wertigkeit von 5 % habe. Das gewählte Gerät verfüge über eine zusätzliche Ausstattung, die dem Komfort zuzuordnen sei. Die gewährte Basisausstattung reiche für einen vollständigen Funktionsausgleich aus.
Am 26. Mai 2021 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Cottbus Klage erhoben. Sie hat zur Begründung ausgeführt, dass sich aus den Messwerten nicht automatisch ergebe, dass ein bestmögliches Sprachverstehen erreicht werden könne, daher seien auch vergleichende Anpassungen im Alltagstest vorgeschrieben. Die Ergebnisse des Freiburger Sprachtests seien nicht als antizipierte Sachverständigengutachten zu verstehen. Im Unterschied zum eigenanteilsfreien Angebot diene die beschaffte Alternative wegen der Frequenzmodulationstechnologie und der binauralen Signalverarbeitung einem besseren Sprachverstehen und sei nicht bloßer Komfort. Zudem habe der Hörakustiker der Beklagten auf die Unterschiede der getesteten Hörgeräte hingewiesen. Diese hätten sich dahingehend ...