Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Bildung von Festbetragsgruppen. keine Einschränkung von Therapiemöglichkeiten und medizinisch notwendiger Verordnungsalternativen. Gemeinsamer Bundesausschuss. Durchführung des nach § 35 Abs 1 SGB 5 geforderten Prüfprogramms von Amts wegen. keine Beschränkung auf die Einwände des stellungnahmeberechtigten Herstellers. Klagebefugnis. Arzneimittelhersteller

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Bildung von Festbetragsgruppen der § 35 Abs 1 S 2 Nr 2 und 3 SGB 5 muss nach § 35 Abs 1 S 3 SGB 5 gewährleistet bleiben, dass Therapiemöglichkeiten nicht eingeschränkt werden und medizinisch notwendige Verordnungsalternativen zur Verfügung stehen. Dabei kann es nicht alleine darauf ankommen, dass die denkbare Alternativen zugelassen und verordnungsfähig sind. Die Gewährleistung muss sich vielmehr auf eine Versorgung zu Festbetragspreisen beziehen: Kann ein Versicherter, der zu einer relevant großen Patientengruppe gehört, nur auf ein Arzneimittel verwiesen werden, welches seinerseits festbetragsgebunden ist, aber zum Festbetrag nicht erhältlich ist, fehlt es an einer Therapiealternative.

2. Der Gemeinsame Bundesausschuss muss das von § 35 Abs 1 SGB 5 geforderte Prüfprogramm von Amts wegen durchführen. Er darf sich nicht auf die Einwände des stellungnahmeberechtigten Herstellers beschränken, da für alle Versicherten - und nicht nur den Patientenkreis, den der Hersteller im Blick hat - gewährleistet sein muss, dass die erforderlichen Therapiealternativen gegeben sind.

 

Orientierungssatz

Zur Klagebefugnis eines Arzneimittelherstellers gegen die Festbetragsfestsetzungen des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 17.09.2013; Aktenzeichen B 1 KR 54/12 R)

 

Tenor

Die in den Beschlüssen des Beklagten vom 26. August 2009 und vom 9. Mai 2012 enthaltenen Festbetragsfestsetzungen für den Wirkstoff Paliperidon werden aufgehoben.

Der Beklagte und der Beigeladene haben ihre Kosten selbst und die übrigen Kosten des Rechtsstreits je zur Hälfte zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Aufhebung der Festbetragsfestsetzungen des beklagten Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen für “Antipsychotika , andere, Gruppe 1„ vom 26. August 2009 sowie vom 9. Mai 2012, soweit darin jeweils Festbeträge für den Wirkstoff Paliperidon bzw. das Arzneimittel Invega® festgesetzt werden.

Die Festbetragsgruppe der “Antipsychotika , andere, Gruppe 1„ besteht aus den Wirkstoffen Risperidon und Paliperidon . Es handelt sich nach der Festsetzung um eine Festbetragsgruppe der Stufe II nach § 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V; “pharmakologisch-therapeutisch vergleichbare Wirkung, insbesondere mit chemisch verwandten Stoffen„). Beide Wirkstoffe haben als gemeinsames Indikationsgebiet das der Behandlung der Schizophrenie.

1. Atypische Antipsychotika sind eine Gruppe von Arzneimitteln, die unter anderem zur Behandlung der Schizophrenie eingesetzt werden. Klassischerweise wird zwischen den “typischen Antipsychotika „ und der später entwickelten, auf anderen Wirkungsmechanismen basierenden, Gruppe der Antipsychotika der 2. Generation, den “atypischen„ Neuroleptika unterschieden.

2. Für den Wirkstoff Risperidon gibt es seit Ende 2007 keinen Patentschutz mehr. Die Klägerin vertreibt Arzneimittel mit diesem Wirkstoff unter dem Namen Risperdal® .

Arzneimittel mit Risperidon dienen der Behandlung der Schizophrenie, ferner zur Behandlung mäßiger bis schwerer manischer Episoden assoziiert mit bipolaren Störungen, zur Kurzzeitbehandlung (bis zu 6 Wochen) von anhaltender Aggression bei Patienten mit mäßiger bis schwerer Alzheimer-Demenz, die auf nichtpharmakologische Methoden nicht ansprechen, bei Risiko für Eigen- und Fremdgefährdung sowie - als integraler Bestandteil eines umfassenden Behandlungsprogramms - zur symptomatischen Kurzzeitbehandlung (bis zu 6 Wochen) von anhaltender Aggression bei Verhaltensstörung bei Kindern im Alter ab 5 Jahren und Jugendlichen mit unterdurchschnittlicher intellektueller Funktion oder mentaler Retardierung, die gemäß der DSM IV Kriterien diagnostiziert wurden, bei denen der Schweregrad der aggressiven oder anderen störenden Verhaltensweisen eine pharmakologische Behandlung erfordert.

Bei Paliperidon handelt es sich um den aktiven Metaboliten des Wirkstoffs Risperidon . Paliperidon hat eine Hydroxylgruppe mehr als Risperidon . Risperidon wird über das CYP2D6-Enzymsystem (=Cytochrom-P450-Enzymsystem) der Leber zu 9-Hydroxyrisperidon (= Paliperidon ) umgewandelt.

Der Wirkstoff Paliperidon ist seit dem Jahr 2007 in der gesamten EU zugelassen. Inhaberin der zentralen Zulassung ist die J International N.V. mit Sitz in Belgien. Paliperidon steht unter Patentschutz. Die Klägerin, eine Tochtergesellschaft des amerikanischen J-Konzerns, vertreibt Tabletten mit dem Wirkstoff als Arzneimittel unter dem Namen Invega® . Es handelt sich dabei um ein besonderes Retard-System (“Extended Release„, deshalb “Paliperidon ER„), das die Klägerin OROS nen...

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