Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Kenntnisgrundsatz. Antragstellung beim unzuständigen Leistungsträger. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB 2. Anwendbarkeit des EuFürsAbk. erlaubter Aufenthalt. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB 12. Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Ermessensreduzierung auf Null bei mehr als sechsmonatigem Aufenthalt. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. Von einer notwendigen rechtzeitigen Kenntniserlangung des Sozialhilfeträgers im Sinne von § 18 Abs 1 SGB 12 kann nicht ausgegangen werden, wenn die Beiladung des Sozialhilfeträgers erst in der Berufungsinstanz und damit geraume Zeit nach Verstreichen des streitigen Leistungszeitraumes erfolgte.
2. Die Voraussetzungen des § 16 Abs 2 SGB 1 sind in Fallkonstellationen, in denen - wie vorliegend - bei dem für Leistungen nach dem SGB 2 zuständigen Leistungsträger ausdrücklich Leistungen nach dem SGB 2 beantragt werden, nicht erfüllt.
3. § 21 S 1 SGB 12 versperrt erwerbsfähigen und deshalb dem SGB 2 zuzuordnenden Hilfebedürftigen den Zugang zu Leistungen nach dem SGB 12, und zwar auch dann, wenn die Betroffenen aus anderen (rechtlichen) Gründen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB 2 haben.
4. Es ist grundsätzlich fraglich, ob das EuFürsAbk überhaupt noch Anwendung finden kann (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 7.6.2012 - L 29 AS 920/12 B ER).
5. Ein Anspruch kann nur dann über das EuFürsAbk hergeleitet werden, wenn sich der Betroffene auf ein Aufenthaltsrecht berufen kann (vgl Art 1 EuFürsAbk).
6. Der Leistungsausschluss des § 23 Abs 3 S 1 SGB 12 stand auch schon vor der aktuellen Neufassung der Regelung einer Leistungsgewährung im Ermessenswege entgegen.
7. Die Erwägungen des BSG zu einem "verfestigten Aufenthaltsrecht" nach sechs Monaten und einem letztlich hieraus resultierenden Leistungsanspruch sind nicht überzeugend.
8. Gegen die Leistungsausschlüsse sowohl nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 als auch nach § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12 aF bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 28.9.2015 - L 20 AS 2161/15 B ER).
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. September 2013 aufgehoben und die Klage gegen den Beklagten abgewiesen.
Die in der Berufungsinstanz angefallene Klage gegen den Beigeladenen wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Februar 2013 bis 31. Juli 2013.
Der 1966 geborene Kläger ist italienischer Staatsbürger. Er hält sich nach eigenen Angaben seit dem 28. November 2012 in Deutschland auf und hat sich am 30. November 2012 bei dem Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin angemeldet. Im streitbefangenen Zeitraum wohnte der Kläger ausweislich des in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Mietvertrages vom 27. November 2012 in B, Sstraße, in einer 1-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von ca. 32 qm und einer Netto-Kaltmiete von 275,- Euro, zuzüglich 75,- Euro Betriebskostenvorschuss und 35,- Euro Heizkostenvorschuss. Nach einer Rückkehr in sein Heimatland im Jahr 2014 wohnt er aktuell nach einer erneuten Einreise in Deutschland seit 2015 unter der im Rubrum genannten Anschrift.
Am 15. Februar 2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten erstmals Leistungen nach dem SGB II. In dem Antrag gab er an, er studiere Deutsch und suche Arbeit. Er habe (bis Ende 2012 in Italien) mehr als 30 Jahre gearbeitet, verfüge über eine 20-jährige Erfahrung als “Verpackungsdrucker„ und “habe fertig„. Bisher habe er von seinem letzten Gehalt gelebt und dies sei leider nun “zu Ende„. Er könne die Miete nicht mehr bezahlen und sich kein Essen kaufen. Er möchte “arbeitslosengeld zwei„ beantragen und suche in Deutschland Arbeit als Verpackungsdrucker oder in einer Pizzeria. Sowohl eine Studienbescheinigung als auch Nachweise über eine konkrete Arbeitsuche (bspw. Bewerbungsschreiben) hat der Kläger nicht vorgelegt.
Mit Bescheid vom 18. Februar 2013 lehnte der Beklagte den Antrag unter Hinweis auf den Leistungsausschluss des § 7 Absatz 1 S. 2 SGB II ab.
Hiergegen erhob der Kläger mit in deutscher Sprache abgefasstem Schreiben vom 24. Februar 2013 am 27. Februar 2013 (Eingangsdatum) Widerspruch. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sei nicht anwendbar, weil die hierzu erlassene Richtlinie der Bundesagentur für Arbeit rechtswidrig sei. Das Sozialgericht Berlin, das Sozialgericht Leipzig und auch das BSG hätten entschieden, dass diese Regelung für Staatsangehörige von Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) keine Anwendung finde. Unabhängig von Art. 1 EFA verstoße die Regelung auch gegen europäisches Gemeinschaftsrecht und sei sc...