Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Bildung des Gesamt-GdB bei mehreren Funktionsstörungen. Voraussetzung der Erhöhung eines Gesamt-GdB wegen eines mit einem Einzel-GdB von 20 v.H. zu bewertenden Einzel-GdB

 

Orientierungssatz

1. Wirkt sich eine mit einem Einzel-GdB von 20 v.H. zu bewertende Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere Funktionsbeeinträchtigung besonders nachteilig aus (hier: Harnblasenentleerungsstörung bei bestehender Darmerkrankung), ist bei der Bildung des Gesamt-GdB ausnahmsweise eine Erhöhung des für die schwerere Gesundheitsbeeinträchtigung vorgesehenen Einzel-GdB um 10 v.H. angemessen.

2. Einzelfall zur Bildung eines Gesamt-GdB bei mehreren Funktionsstörungen.

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. April 2010 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2006 verpflichtet, bei dem Kläger ab dem 1. Juli 2009 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Der 1946 geborene Kläger, bei dem der Beklagte mit Bescheid vom 12. August 2005 einen GdB von 40 festgestellt hatte, stellte am 29. August 2005 einen Neufeststellungsantrag. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten ärztlichen Befunde lehnte der Beklagte eine Erhöhung des GdB mit Bescheid vom 23. März 2006 ab. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Schwerhörigkeit (20),

b) Darmwandausstülpungen (Divertikulose) (20),

c) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (20),

d) Herzrhythmusstörungen (20),

e) Funktionsbehinderungen des Schultergelenks beidseits (10),

f) Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen (10).

Auf den Widerspruch des Klägers holte der Beklagte das Gutachten des Internisten Dr. Sch vom 8. August 2006 ein, der im Hinblick auf die von ihm festgestellte

g) Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks,

die er mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete, einen Gesamt-GdB von 50 vorschlug. Dieser Einschätzung schloss sich der Versorgungsarzt des Beklagten nicht an, der für das Knieleiden einen Einzel-GdB von 10 - mit der Folge eines Gesamt-GdB von 40 - ansetzte. Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2006 zurück.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt. Seit August 2009 ist er berentet. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Allgemeinmediziners L vom 14. Januar 2010 eingeholt, der die durch den Beklagten vorgenommene Bewertung bestätigt hat.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 6. April 2010 abgewiesen. Es ist hierbei dem gerichtlichen Sachverständigengutachten gefolgt.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Unter Vorlage diverser ärztlicher Bescheinigungen bringt er vor, dass seine Behinderungen, insbesondere das Darmleiden, mit einem höheren Einzel-GdB zu bewerten seien. Zudem seien die Schäden seiner Harnorgane, die Bildung eines Blasendivertikels mit der Folge von Blasenentleerungsstörungen, zu Unrecht unberücksichtigt geblieben.

Nach Einholung des Befundberichts der urologischen Praxis Dres. P, St und L vom 19. November 2010 hat der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme der Urologen Dr. S vom 15. Dezember 2010 vorgelegt, die - unter Beigehaltung des Gesamt-GdB von 40 - empfohlen hat, mit Wirkung ab August 2009 als weitere Behinderung aufzunehmen:

- Entleerungsstörungen der Harnblase (20).

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Internisten Dr. B vom 13. Juni 2012. Nach Untersuchung des Klägers hat der Sachverständige festgestellt, dass sich die Situation der Darmerkrankung nicht wesentlich verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Hinzugekommen sind die bislang nicht berücksichtigten Störungen im Sinne einer latenten Pankreatitis sowie eine Schilddrüsenfunktionsstörung. Zugenommen haben die gonarthrotischen Beschwerden mit Gehbehinderung. Der Gutachter hat vorgeschlagen, die bei dem Kläger im Untersuchungszeitraum vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt zu bewerten:

a) Schwerhörigkeit (20),

b) Darmdivertikulose bei rezidivierender Divertikulitis mit vermehrter Diarrhoe und Tenesmen bei Zustand nach Sigmaresektion, Verdacht auf rezidivierende Pankeratitis (Erhöhung der Lipase) (30),

c) wiederkehrende Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (20),

d) Bluthochdruck, kompensiert und Herzrhythmusstörungen nach Ablation (20),

e) Funktionsstörungen beider Schultergelenke (10),

f) Kopfschmerz mit Schwindel und Übelkeit (20),

g) ausgeprägte Gonarthrose rechts mit Gehbehinderung (20),

h) Schilddrüsenfunktionsstörungen im Sinne einer kleinknotigen Struma n...

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