Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. AMNOG-Verfahren. Nutzenbewertungsverfahren für im betreffenden Anwendungsgebiet neu zugelassenes Arzneimittel. Verhältnis zu einem abgeschlossenen Methodenbewertungsverfahren. direktvertriebenes Arzneimittel. Neuheit eines Wirkstoffs bei Unterlagenschutz. Maßstab der Bestimmung einer zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) bei zulassungsrechtlichem Solistenstatus. normativer Zusatznutzen. Annexkompetenz zur Erstattungsbetragsfestsetzung im Schiedsverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Zum Verhältnis eines abgeschlossenen Methodenbewertungsverfahren zum Nutzenbewertungsverfahren in Bezug auf ein im betreffenden Anwendungsgebiet neu zugelassenes Arzneimittel.
2. Das AMNOG-Verfahren ist auch für Arzneimittel anwendbar, die vom pharmazeutischen Unternehmer ausschließlich im Direktvertrieb abgegeben werden.
3. Ein Wirkstoff ist neu, solange für ihn im Sinne der sogenannten 8+2+1-Regelung Unterlagenschutz besteht.
4. Zu den Maßstäben der Bestimmung einer zVT, wenn es sich bei dem zu beurteilenden Arzneimittel um einen zulassungsrechtlichen Solisten handelt.
5. Für Arzneimittel mit zulassungsrechtlichem Solistenstatus ist im Rahmen des Nutzenbewertungsverfahrens nicht von einem normativen Zusatznutzen auszugehen.
6. Die Festsetzung weiterer Vertragsinhalte im Schiedsverfahren, die mit der Festsetzung des Erstattungsbetrages in einem funktionellen Zusammenhang stehen, ist von der Annexkompetenz der Schiedsstelle nach § 130b SGB V umfasst.
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen haben.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin, die das Fertigarzneimittel Rapiscan® mit dem Wirkstoff Regadenoson als pharmazeutisches Unternehmen vertreibt, wendet sich gegen den Schiedsspruch der beklagten Schiedsstelle nach § 130b Abs. 5 SGB V vom 6. Juli 2020 auf der Grundlage des vom Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA; Beigeladener zu 2.) durchgeführten Nutzenbewertungsverfahrens.
Das Arzneimittel Regadenoson ist ein Diagnostikum, das als pharmakologischer Stressauslöser bei Herzuntersuchungen zur kurzzeitigen Gefäßerweiterung (Vasodilatation) mit der Folge der Erhöhung des koronaren Blutflusses (Hyperämie) eingesetzt wird. Rapiscan® wurde als 400 Mikrogramm Injektionslösung mit dem alleinigen Wirkstoff Regadenoson erstmals am 6. September 2010 zunächst für das Anwendungsgebiet Myokardperfusionsaufnahmen (MPA bzw. englisch: myocardial perfusion imaging [MPI]), einer nuklearmedizinischen Untersuchung zur Messung der Durchblutung des Herzmuskels, zugelassen (EU-Zulassung; Veröffentlichung im „union register of medicinal products for human use“ der Europäischen Kommission am 8. September 2010 unter der Registrierungsnummer EU/1/10/643/001). Die Firma R P S EU ltd. brachte das Arzneimittel in Form des verschreibungs- und apothekenpflichtigen Fertigarzneimittels unter dem Handelsnamen Rapiscan® im April 2011 in Deutschland in den Verkehr. Sie übertrug die Zulassung des Arzneimittels nach Erwerb des Unternehmens durch den auf Medizintechnik und pharmazeutische Arzneimittel spezialisierten, weltweit tätigen H-Konzern im Laufe des Jahres 2017 auf die H in Oslo. Die Klägerin ist von dieser zum exklusiven Vertrieb dieses Produkts als pharmazeutische Unternehmerin in Deutschland ermächtigt worden und eine in der Rechtsform der GmbH & Co. KG geführte deutsche Tochtergesellschaft des Konzerns.
Der Beigeladene zu 2. ergänzte im Jahr 2012 die Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie - AM-RL) um den Wirkstoff Regadenoson im für das Diagnostikum zugelassenen Anwendungsgebiet der Myokardperfusionsaufnahmen (MPI) mit Radionukliden bei erwachsenen, nicht ausreichend körperlich belastbaren Patienten. Der Zusatznutzen des Arzneimittels im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT), die mit Adenosin bestimmt worden war, galt als nicht belegt (nachfolgend: Nutzenbewertungsbeschluss vom 29. März 2012; BAnz AT 27.04.2012 B3). Die Klägerin und der Beigeladene zu 1. (Spitzenverband Bund der Krankenkassen - GKV-SpV) verständigten sich nach Abschluss dieses (ersten) Nutzenbewertungsverfahrens im selben Jahr auf einen Erstattungsbetrag in Höhe von 54 € je Anwendung.
Im August 2015 leitete der Beigeladene zu 2. auf Antrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) das Beratungsverfahren zur Bewertung der Messung der fraktionellen Flussreserve (FFR) bei koronarer Herzkrankheit (KHK) ein (Beschluss des Plenums des GBA vom 20. August 2015; vgl. Zusammenfassende Dokumentation, Stand: 20. Februar 2018, S. 15, 23). Die KHK ist die klinisch relevante Manifestation der Atherosklerose in den Herzkranzarterien, wobei ein Missverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und Sauerstoffbedarf im Herzmuskel besteht. Bei der FFR-Messung handelt es sich um eine invasive dia...