Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren: Voraussetzungen eines Anspruchs auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten

 

Orientierungssatz

1. Bei den Begriffen "besondere Lebensverhältnisse" und den damit verbundenen "sozialen Schwierigkeiten" i.S.d. § 67 S. 1 SGB XII handelt es sich um von den Gerichten voll überprüfbare unbestimmte Rechtsbegriffe. Heranzuziehen ist zur Abgrenzung des danach berechtigten Personenkreises die noch auf Grundlage der Verordnungsermächtigung in § 72 Abs. 5 BSHG erlassene Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (VO-HBS), nach deren § 1 Abs. 1 S. 1 Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten leben, wenn besondere Lebensverhältnisse derart mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, dass die Überwindung der besonderen Lebensverhältnisse auch die Überwindung der sozialen Schwierigkeiten erfordert.

2. Personen, die sich wie die Klägerin in besonderen sozialen Schwierigkeiten befinden, soll gerade dann zunächst einmal eine unterstützende Hilfe "aus einer Hand" zukommen, wenn auch Leistungen anderer Träger nach dem SGB XII (oder Jugendhilfe) geeignet sein können, die besonderen sozialen Schwierigkeiten zu überwinden.

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. November 2014 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin vom Beklagten Leistungen aus Anlass ihres Aufenthalts in der Einrichtung “W V S„ des Beigeladenen in der Zeit vom 19. Dezember 2009 bis zum 19. Mai 2010 beanspruchen kann.

Die Klägerin ist 1987 geboren. Sie hat eine Förderschule bis zur 10. Klasse besucht und 2005 ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert. Nach der Geburt ihrer Tochter im Oktober 2006 lebten beide zunächst gemeinsam in einer Mutter-Kind-Einrichtung. Ende 2008 zog die Klägerin zurück zu ihrer Mutter. Die Tochter der Klägerin wurde in einer Pflegefamilie aufgenommen.

Im Februar 2009 regte die Betreuungsbehörde bei dem für den damaligen Wohnsitz der Klägerin zuständigen Landkreis Märkisch-Oderland die Einrichtung einer Betreuung an. Die Mutter der Klägerin werde ihre Wohnung aufgeben und wegziehen. Die Klägerin wisse nicht, wo sie bleiben solle. Sie habe nur unvollständige Kenntnisse der Schultechniken, Schwierigkeiten in allen Bereichen, könne Inhalte und Sachverhalte kaum verstehen und sei erziehungsunfähig. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie aufgrund der Diagnosen Depressionen und Borderline-Störung mit Psychopharmaka behandelt.

Der vom Amtsgericht Strausberg beauftragte Sachverständige Dr. B (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie mit Zusatzbezeichnung Sozialmedizin und Rehabilitationswesen) diagnostizierte bei der Klägerin in seinem Gutachten vom 2. März 2009 einen Verdacht auf eine leichte Intelligenzminderung, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, eine Angst- und depressive Störung sowie einen Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (Gewalttätigkeit des Vaters jedenfalls gegenüber der Mutter, Vergewaltigung im 11. Lebensjahr). Die Klägerin habe geschildert, dass sie wegen ihrer psychischen Erkrankung mit Panikattacken (zunehmend seit einem halben Jahr), depressiver Verstimmung und schlechten Bildung Probleme mit allen offiziellen Dingen habe. Sie verstehe Inhalte von Schreiben nicht, und könne sich selbst nicht richtig ausdrücken. Lesen und schreiben könne sie nicht. Der Sachverständige gelangte zu der Einschätzung, dass die Klägerin infolge ihrer Einschränkungen nicht in der Lage sei, ihre Vermögensangelegenheiten, Wohnungsangelegenheiten, arbeitsrechtlichen Angelegenheiten und Behördenangelegenheiten ohne fremde Hilfe zu erledigen. Da sie psychiatrisch behandelt werden müsse, sollten Gesundheitsangelegenheiten mit zum Betreuungsumfang gehören. Da sie die Inhalte von Gelesenem nicht verstehe, sollte die Betreuung ferner die Befugnis zum Empfang und Öffnen der die Betreuungsangelegenheiten betreffenden Post umfassen. Empfehlenswert sei auch, die Sorgerechtsangelegenheiten für die Tochter mit in die Betreuung aufzunehmen. Den Sinn und Inhalt sowie den Zweck einer Vollmacht im Unterschied zu einer Betreuung könne die Klägerin erkennen. Sie habe jedoch keine Angehörigen, die als Bevollmächtigte in Betracht kämen. Im Zeitpunkt des Gutachtens war eine Behandlung der Klägerin ab dem 5. März 2009 in der psychiatrischen Tagesklinik S vorgesehen. Ab einem unbestimmten Zeitpunkt befand sich die Klägerin dann zur stationären Behandlung in der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des E-F Krankenhauses R. Der dortige Sozialdienst regte für die Zeit nach der Entlassung am 23. April 2009 ebenfalls die Einrichtung einer Betreuung an. Dies sei erforderlich, damit die Klägerin die notwendigen behördlichen Angelegenheiten regeln könne. Sie sei zur Z...

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