Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Schiedsspruch im Schiedsverfahren nach § 130b SGB 5. frühe Nutzenbewertung. Festlegung eines Erstattungsbetrags. Bindungswirkung von Beschlüssen des GBA. Vorrang des Wortlauts des Beschlusses. zum Umfang des Gestaltungsspielraums der Schiedsstelle. Bildung von Patienten(sub)gruppen. zur Pflicht zur Berücksichtigung der Versorgungsrealität (hier: verneint). keine Bindungswirkung von auf Bundes- bzw regionaler Ebene geschlossenen Vereinbarungen für die Schiedsstelle. unzutreffende Tatsachenannahmen im Schiedsverfahren. diesbezügliche Präklusion bei erstmaliger Rüge im gerichtlichen Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Dem (nicht auslegungsbedürftigen) Wortlaut eines Beschlusses des GBA gebührt der Vorrang vor abweichenden Ausführungen in den tragenden Gründen dieses Beschlusses.
2. Der der Schiedsstelle durch § 130b Abs 4 S 2 SGB V eingeräumte weite Gestaltungsspielraum ist durch § 130b Abs 3 S 2 SGB V als lex specialis eingeschränkt.
3. Die Schiedsstelle nach § 130b Abs 5 SGB V muss die Versorgungsrealität bei der Anwendung von § 130b Abs 3 S 2 SGB V nicht berücksichtigen, wenn weder das Dossier des pharmazeutischen Unternehmers noch der Nutzenbewertungsbeschluss des GBA Differenzierungen für bestimmte Patientengruppen vorsehen.
4. Die auf Bundes- bzw regionaler Ebene geschlossenen Vereinbarungen nach § 84 Abs 1 und 6, § 106b Abs 1 SGB V binden die Schiedsstelle nach § 130b Abs 5 SGB V bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln nicht.
5. Hätte ein Beteiligter an einem Schiedsverfahren noch vor dessen Abschluss erkennen müssen, dass die Schiedsstelle von aus seiner Sicht unzutreffenden Tatsachen ausgeht, muss er dies gegenüber der Schiedsstelle rügen. Erfolgt diese Rüge erstmals im gerichtlichen Verfahren, ist der Beteiligte insoweit präkludiert.
Nachgehend
Tenor
Die Klage gegen den Schiedsspruch des Beklagten vom 8. Juni 2018 wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen Schiedsspruch der Beklagten, der gemeinsamen Schiedsstelle nach § 130b Abs. 5 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V).
Die G GmbH, eine Rechtsvorgängerin der Klägerin die am 8. März 2018 auf diese verschmolzen wurde, brachte als pharmazeutische Unternehmerin am 1. Oktober 2013 das Arzneimittel Aubagio (Wirkstoff: Teriflunomid, Filmtabletten mit einer Wirkstärke von 14 mg) in den Verkehr. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency - EMA) erteilte am 26. August 2013 die Zulassung für das Inverkehrbringen von Aubagio. Zulassungsinhaberin war und ist ausweislich der Fachinformation (Ziff. 7) und des Europäischen Öffentlichen Beurteilungsberichts (European Public Assessment Report - EPAR) gem. Art. 38 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. L 136 vom 30. April 2004, S. 1) - Anhang I - Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels, Ziff. 7 - die s mit Sitz in Paris. Inhaberin der alleinigen Vertriebsrechte für Deutschland ist die Klägerin.
Die arzneimittelrechtliche Zulassung vom 26. August 2013 definiert in Übereinstimmung mit den Fachinformationen nach § 11a Arzneimittelgesetz - AMG - (Stand Juni 2017 und Stand Januar 2021) als Anwendungsgebiet von Aubagio:
„AUBAGIO ist zur Behandlung erwachsener Patienten mit schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (MS) angezeigt. Siehe Abschnitt 5.1 für weitere Informationen über die Patienten, bei denen die Wirksamkeit nachgewiesen wurde.“
Wegen des Inhalts von Abschnitt 5.1 der Fachinformation („Pharmakodynamische Eigenschaften“) wird auf Bl. 109/110 der Gerichtsakte verwiesen.
Schon vor der Zulassung von Aubagio erbat die Klägerin beim Beigeladenen zu 2 (Gemeinsamer Bundesausschuss - GBA) eine Beratung nach § 8 Arzneimittel-Nutzenverordnung (AM-NutzenV) u.a. zur Frage der zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) im Rahmen der nach § 35a Abs. 1 SGB V durchzuführenden frühen Nutzenbewertung. Im Beratungsgespräch vom 4. Juli 2012 teilte er der Klägerin mit, er habe als ZVT für Patienten mit schubweise verlaufender MS (first-line Therapie) Beta-Interferone (1a oder 1b), für Patienten, die für eine Behandlung mit Beta-Interferonen nicht infrage kommen, Glatirameracetat bestimmt. Mit Schreiben vom 30. Oktober 2012 teilte der Beigeladene zu 2 der Klägerin die für dieselbe Patientengruppe zwischenzeitlich modifizierte ZVT - „Beta-Interferone (1a oder 1b) oder Glatirameracetat unter Beachtung des jeweils zugelassenen Anwendungsgebiets“ - mit. Die Klägerin wählte in dem von ihr am 30. September 2013 eingereichten abschließenden Dossier (Stand: 25. September 2013; vgl. htt...