Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen eines Anspruchs des schmerzkranken Versicherten auf Versorgung mit Cannabis

 

Orientierungssatz

1. Versicherte haben unter den in § 31 Abs. 6 SGB 5 genannten Voraussetzungen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten.

2. Dem verordnenden Vertragsarzt wird dabei eine Einschätzungsprorogative eingeräumt, die von der Krankenkasse und dem Gericht nur sehr begrenzt auf deren inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen ist. Ausreichend ist, dass die Begründung des Arztes nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei ist.

3. Fehlt es daran, so ist die in § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1b SGB 5 genannte Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt.

4. Erforderlich ist eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 2018 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.

Dem Antragsteller wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin J. gewährt.

 

Gründe

Die am 28. Januar 2019 fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den ihr am 10. Januar 2019 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 2018 ist statthaft und zulässig (§ 172 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. §§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Einstweilige Anordnungen sind zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86 b Abs. 2 S. 2 SGG). Der durch den beantragten vorläufigen Rechtsschutz zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Sicherung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO).

Die mit der Beschwerde von der Antragsgegnerin geltend gemachten Argumente gegen den zugrundeliegenden Beschluss des Sozialgerichts überzeugen nicht. Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - soweit es zugesprochen hat - sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zutreffend entsprochen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG insoweit Bezug auf den ausführlich begründeten Beschluss des Sozialgerichts. Zu Recht hat das Sozialgericht darauf abgestellt, dass ein Anordnungsgrund (hierzu unter b)) ebenso besteht wie dem Begehren des Antragstellers der erforderliche Anordnungsanspruch im Wege der Folgenabwägung bei offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache zuzubilligen (hierzu unter a)) ist.

a) Die Antragsgegnerin gründet ihre Beschwerde unter Bezugnahme auf ihren Widerspruchsbescheid, ihre Argumente vor dem Sozialgericht und die Ausführungen des MDK im Wesentlichen darauf, dass es für den Antragsteller mit dem Medikament Sativex eine vertragliche Alternative zu den vom Antragsteller präferierten Cannabisblüten gäbe und er bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens auch hierauf verwiesen werden könne.

Diese Argumentation dürfte auf einem fehlerhaften Verständnis der zugrundeliegenden Norm des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V - beruhen.

Nach dieser Bestimmung haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

a) nicht zur Verfügung steht oder

b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,

2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.

Die vorgenannten gesetzlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V sind von dem Antragsteller auch zur Überzeugung des Senats insoweit hinreichend glaubhaft gemacht worden, als eine Folgenabwägung zu seinen Gunsten ausfällt. Vom Sozialgericht wurde insoweit zunächst zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller bereits seit Jahren an einer schwerwiegenden Erkrankung in Form der Multiplen Sklerose leidet. Bei der Definition der schwerwiegenden Erkrankung schließt sich der Senat dem LSG Nordrhein-Westfalen an, welches dieses Tatbe...

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