Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweismaßstab bei einem geltend gemachten Anspruch auf Opferentschädigung

 

Orientierungssatz

1. Nach § 10a Abs. 1 S. 1 OEG erhalten Personen, die zwischen dem 23. 5. 1949 und dem 15. 5. 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie u. a. allein infolge dieser Schädigung schwerbehindert sind.

2. Der hierzu erforderliche Grad der Schädigung von 50 muss allein aufgrund der im genannten Zeitraum erlittenen Schädigung vorliegen.

3. Im Übrigen muss die geltend gemachte Schädigung i. S. des Vollbeweises nachgewiesen sein. Beruht eine mögliche Beweisnot allein auf dem vom Antragsteller zu vertretenden Zeitablauf, so gelangt der abgesenkte Beweismaßstab des § 15 KOVVfG nicht zur Anwendung.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 24.06.2020; Aktenzeichen B 9 V 22/20 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. Februar 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsrecht.

Die 1947 geborene Klägerin stellte am 16. September 2013 einen Antrag auf Versorgung für Geschädigte nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Mit ihrem Antrag machte sie geltend, vom 9. bis zum 11. Lebensjahr von ihrem Stiefvater missbraucht worden zu sein. Ihr Stiefvater sei deswegen zu mindestens zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Unterlagen hierzu seien nicht mehr vorhanden, Zeugen der Tat ebenso wenig, da ihre Großmutter, ihre Mutter und ihre Klavierlehrerin verstorben seien. Sie habe mit 20 Jahren versucht, sich das Leben zu nehmen und sei in die Psychiatrie nach ... eingeliefert worden.

Ermittlungen der Beklagten u.a. beim Universitätskrankenhaus ... und dem Staatsarchiv blieben erfolglos. Sämtliche Krankenakten sind bereits vernichtet worden. Mit Bescheid vom 3. April 2014 lehnte die Beklagte den Antrag auf Versorgung nach dem OEG ab. Zur Begründung führte sie aus, die von der Klägerin genannten Taten seien nicht nachgewiesen. Eine staatsanwaltliche Ermittlungsakte habe fast 55 Jahre nach der vermeintlichen Verurteilung nicht mehr beigezogen werden können und Zeugen seien für die Tat nicht mehr vorhanden, da diese bereits verstorben seien. Es lägen daher ausschließlich die Angaben der Klägerin vor, die sehr dürftig und wenig aussagekräftig seien. Die Beweiserleichterung nach § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) könne der Klägerin nicht zugutekommen, da die Klägerin für den Umstand, dass ein Nachweis zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr gelinge, nicht schuldlos sei. Denn sie habe den Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsrecht erst rund 55 Jahre nach den vermeintlichen Vorfällen aus den Jahren 1956-1958 gestellt, die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft seien aufgrund des langen Zeitablaufs bereits vernichtet worden und mögliche Zeugen seien verstorben. Auch die Härtefallvoraussetzungen des § 10a OEG seien nicht erfüllt, da die Klägerin nicht allein infolge der Schädigung mit einem GdB von 50 schwerbeschädigt sei. Denn vom Versorgungsamt Hamburg sei für die Klägerin nach dem Schwerbehindertenrecht nur ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 für psychische Leiden anerkannt.

Mit Bescheid vom 17. Januar 2014 wurde bei der Beklagten durch das Versorgungsamt ein GdB von 40 festgestellt. Hierbei berücksichtigte die Beklagte eine Herzleistungsminderung mit einem Teil GdB von 30 und die psychische Störung mit einem Teil GdB von 20.

Mit ihrem Widerspruch vom 23. April 2014 machte die Klägerin geltend, als Zeugin nunmehr ihre jüngere Schwester, die ebenfalls von demselben Täter, deren Vater, nach dessen Zuchthausaufenthalt missbraucht worden sei, benennen zu können. Die Halbschwester der Klägerin erklärte mit Schreiben ohne Datum, eingegangen bei der Beklagten am 4. Dezember 2014, den Missbrauch der Klägerin zwar nicht direkt mitbekommen zu haben. Sie habe aber bemerkt, dass ihr Vater die Klägerin gegriffen, ins Zimmer gebracht und „etwas mit ihr gemacht habe“. Sie selbst sei von ihrem Vater ab dem 11. bis zum 18. Lebensjahr regelmäßig mindesten 2-3 Mal pro Woche vergewaltigt worden. Die Beklagte ermittelte weiter, holte insbesondere Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte ein und beauftragte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie A. mit der Erstellung eines Gutachtens. Die Gutachterin untersuchte die Klägerin am 21. August 2015. In ihrem Gutachten vom 27. August 2015 stellte sie u.a. fest, dass im Rahmen dieser Begutachtung keine kausal auf die angezeigte schädigende Tat zurückzuführenden klar abgrenzbaren Schädigungsfolgen festgestellt werden könnten. Die Beschwerden und die Schwierigkeiten der Klägerin seien als Ausdruck einer vor allem strukturellen Störung mit jetzt im Alter aufgrund der starken körperbezogenen Angst erklärbar und könnten jetzt nicht mehr kompensiert werden. Sie teile insoweit die Einschätzung der die Klägerin behandel...

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