Entscheidungsstichwort (Thema)

Fiktion der Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen bis zu deren endgültiger Klärung bei beantragten Leistungen der Grundsicherung

 

Orientierungssatz

1. Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung hat nach § 7 Abs. 1 SGB 2, wer u. a. erwerbsfähig ist.

2. Zu den Versicherten nach § 1 S. 1 Nr. 2 SGB 6 gehören u. a. behinderte Menschen, die in anerkannten Werkstätten für Behinderte tätig sind. Allein deren Besuch führt nicht zur Annahme von Erwerbsunfähigkeit. Es muss noch hinzukommen, dass der Hilfebedürftige tatsächlich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht einsatzfähig ist (BSG Urteil vom 24. 4. 1996, 5 RJ 34/95).

3. Nach § 44a Abs. 1 S. 7 SGB 2 wird bis zur Klärung der Erwerbsfähigkeit diese zunächst fingiert. Die Regelung ist nicht nur bei einem Streit zwischen den Leistungsträgern, sondern auch dann anzuwenden, wenn der Grundsicherungsträger von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgeht, sich aber nicht um eine Klärung der Angelegenheit mit dem zuständigen Leistungsträger des SGB 12 bemüht hat.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 7. April 2016 aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wird, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit vom 1. April 2016 bis 30. September 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Die am 12. April 2016 eingelegte Beschwerde des Antragsstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 7. April 2016 ist statthaft und zulässig (§ 172 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 173 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund voraus, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung glaubhaft zu machen.

Dies zugrunde gelegt, hat der Antragsteller hier sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Die Antragsteller ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).

Diese Voraussetzungen liegen im Falle des am 19. September 1995 geborenen Antragstellers vor. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 a SGB II noch nicht erreicht, ist hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.

Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob der Antragsteller erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II i. V. m. § 8 SGB II ist. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dass der Antragsteller nicht mehr erwerbsfähig in diesem Sinne wäre, wurde bisher nicht festgestellt. Soweit der Antragsgegner unter Berufung auf die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 8 SGB II die Auffassung vertritt, dass bei behinderten Menschen, die im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt sind, nach § 43 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) i.V.m. § 1 Satz 1 Nr. 2a SGB VI eine dauerhafte, volle Erwerbsminderung vorliege und von einer Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 8 SGB II erst dann wieder ausgegangen werden könne, wenn die Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen durch Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses beendet sei, vermag der Senat dem nicht zu folgen und sieht sich insoweit auch nicht an die Weisungen der Bundesagentur für Arbeit gebunden. Denn diese Rechtsauffassung findet in den gesetzlichen Vorschriften keine Stütze. § 43 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB VI bestimmt, dass voll erwerbsgemindert auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI sind, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Zu den Versicherten nach § 1 Satz 1 Nr. ...

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