Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Beziehungsgewalt. sexuelle Nötigung. kein tätlicher Angriff bei psychisch hervorgerufener Zwangslage. Unbilligkeit. Mitverursachung. Selbstgefährdung

 

Orientierungssatz

1. Werden sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers von diesem nicht durch den Einsatz körperlicher Gewalt, sondern aufgrund einer psychisch hervorgerufenen Zwangslage (hier: Abhängigkeit, Verliebtheit, Wunsch nach einer guten Beziehung, Nichtwahrhabenwollen einer fehlenden Rücksichtnahme auf eigene Wünsche und das eigene Befinden) durchgeführt, so fehlt es an einem tätlichen Angriff iS von § 1 OEG.

2. Gemäß § 2 Abs 1 OEG ist die Versorgung zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Letzteres ist zu bejahen, wenn ein Opfer seine Schädigung mitverursacht hat, indem es sich bewusst oder leichtfertig der Gefahr einer Schädigung ausgesetzt hat (vgl BSG vom 21.10.1998 - B 9 VG 6/97 R = BSGE 83, 62 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 08.06.2020; Aktenzeichen B 9 V 2/20 BH)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Dezember 2013 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an die Klägerin wegen einer Verschlimmerung der gemischten Angst- und depressiven Störung bzw. dem Eintreten einer posttraumatischen Belastungsstörung durch die Ereignisse von 2005/2006.

Die 1962 geborene Klägerin lernte 2004 in einer Essensausgabe für mittellose Menschen den 1969 geborenen F. (inzwischen, im Folgenden Y.M.) kennen. Zwischen Beiden entwickelte sich eine auch sexuelle Beziehung, die im Laufe der Zeit schwierig wurde, die aber zumindest bis Februar 2006 fortbestand. Die Klägerin besuchte Y.M. in seiner Wohnung. Diese Besuche dauerten jedenfalls bis September 2006 an.

Am 15. Dezember 2006 erstattete die Klägerin Strafanzeige und stellte kurz danach Strafantrag gegen Y.M. Am Tag der Strafanzeige wurde die Klägerin von einer Ermittlungsbeamtin des Landeskriminalamts als Zeugin vernommen. Die Vernehmung wurde auf Tonträger aufgezeichnet und anschließend als Wortprotokoll ausgefertigt. Danach ergibt sich folgendes Bild: Es gab zuerst einvernehmliche sexuelle Kontakte einschließlich Oralverkehr. Dann gab es dreimal im Flur Oralverkehr bei ihm, der gegen den Willen der Klägerin geschah. Hierbei hatte Y.M. die Klägerin in eine Ecke gedrängt und obwohl die Klägerin gesagt habe, dass sie das nicht wolle und sie seine Hände weggenommen/weggeschlagen habe, habe sie sich in die Ecke gesetzt (bzw. sei auch mal von ihm an den Haaren runtergezogen wurden) und Oralverkehr ausgeführt, um es hinter sich zu bringen. Angst habe sie nicht vor ihm gehabt. Sie wisse nicht, was in Y.M. vorgegangen sei, wenn er dies getan habe. Es sei wohl ein Verhaltensmuster, was man sich irgendwann aneigne. Es sei nicht „unbedingt böswillig“ gewesen. Von da ab habe sie ihre Wäsche bei ihm nur noch gegen Oralsex als Gegenleistung waschen sollen. Silvester 2005 habe er sie dann auch vergewaltigt. Auch einen Vibrator habe er gegen ihren Willen eingeführt. Auf die Frage, warum sie immer wieder zu Y.M. in die Wohnung gegangen sei, sagte die Klägerin, zum einen, weil sie total verknallt gewesen sei und zum anderen, weil sie immer wieder gedacht habe, er würde sich bessern und das Gespräch darüber gesucht habe. Sie habe sich vom gesamten Verhalten des Y.M. gedemütigt und herabgesetzt gefühlt. Sie sei auch persönlich und in E-Mail beleidigt worden.

Das von der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Y.M. eingeleitete Ermittlungsverfahren (Az. 7205 Js 63/07), innerhalb dessen der Beschuldigte bei seiner Vernehmung am 29. März 2007 die Vorwürfe bestritt, wurde am 15. Mai 2007 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt (Einstellungsbescheid vom selben Tag, ergänzender Einstellungsbescheid vom 5. Oktober 2007). Mit Bescheid vom 2. November 2007 (Az.: 2 Zs 674/07) wies die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg die von der Klägerin hiergegen erhobene Beschwerde zurück. Mit Beschluss vom 3. Januar 2008 wurde der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung über den Beschwerdebescheid der Generalstaatsanwaltschaft durch das Hanseatische Oberlandesgericht (HansOLG) verworfen (Az.: 3 Ws 182/07). Die hiergegen von der Klägerin erhobene Gegenvorstellung war erfolglos (Beschluss des HansOLG vom 17. Januar 2008).

Am 22. Januar 2007 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Versorgungsleistungen nach dem OEG. Sie machte dabei im Einzelnen geltend, dass sie während ihrer Bekanntschaft mit Y.M. von etwa März 2005 bis Ende September 2006 Opfer von durch diesen ih...

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