Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Gleichstellung. Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes. vorhandene Beschäftigung in einem sicheren Arbeitsverhältnis. angestrebter Arbeitsplatzwechsel. beruflicher Aufstieg. Diskriminierungsverbot. Berufswahlfreiheit. Gesundheitliche Eignung für die Übernahme in ein Beamtenverhältnis
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Gleichstellungsanspruch zur Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes nach § 2 Abs 3 Alt 1 SGB 9 kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der behinderte Mensch bislang entweder keinen Arbeitsplatz innehat oder der innegehabte Arbeitsplatz ungeeignet oder gefährdet ist. Dies ergibt sich weder aus dem Wortlaut des § 2 Abs 3 SGB 9 noch aus dessen Zweck unter Beachtung der historischen Entwicklung und anderer, insbesondere auch höherrangiger Rechtsnormen.
2. Eine Vielzahl inländischer, europarechtlicher und völkerrechtlicher Normen verbietet die Diskriminierung behinderter Menschen aufgrund ihrer Behinderung, fordert die Herstellung eines diskriminierungsfreien Zustands und ist zur Auslegung des § 2 Abs 3 SGB 9 heranzuziehen. Dies gilt insbesondere für solche Vorschriften, die in einem höheren Rang als ein einfaches Bundesgesetz stehen. Speziell bei der Bewegung auf dem Arbeitsmarkt - auch im Sinne einer Förderung des beruflichen Aufstiegs - ist Art 27 Abs 1 S 2 Buchst a und e UN-BRK (juris: UNBehRÜbk) ebenso zu beachten wie die durch Art 12 Abs 1 GG gewährleistete Berufswahlfreiheit.
3. Anspruch auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gemäß §§ 2 Abs 3 Alt 1 iVm § 68 Abs 2 SGB 9 hat deshalb auch ein behinderter Mensch mit einem zuerkannten Grad der Behinderung von 30, der zwar einen leidensgerechten Arbeitsplatz (hier: als Justizfachangestellte im mittleren Dienst) innehat, aber wegen eines behinderungsbedingten Wettbewerbsnachteils einen von ihm angestrebten und ebenfalls leidensgerechten Arbeitsplatz (hier: als Finanzanwärterin für eine Ausbildung als Diplom-Finanzwirtin im gehobenen Dienst) nicht erlangen kann, der für ihn mit einem beruflichen Aufstieg verbunden wäre.
4. Dieser Auslegung des § 2 Abs 3 Alt 1 SGB 9 kann nicht entgegengehalten werden, dass sie zu einer Konturlosigkeit und Ausuferung der Gleichstellung führen würde. Die Prüfung des Gleichstellungsanspruchs im Rahmen der Erlangensalternative des § 2 Abs 3 SGB 9 erfolgt nicht abstrakt, sondern knüpft an einen konkret zu benennenden Arbeitsplatz an, dessen Geeignetheit festzustellen ist. Dass tatsächlich eine größere Zahl an Gleichstellungen erfolgen könnte als in der Vergangenheit, ist eine zwingende Folge der nach nationalem und supranationalem Recht geforderten Beseitigung der Diskriminierung behinderter Menschen.
Normenkette
SGB IX § 2 Abs. 3, § 68 Abs. 2, § 73 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. September 2012 sowie der Bescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2011 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen.
2. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist ein Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen nach §§ 2 Abs. 3, 68 Abs. 2 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).
Die 1982 geborene Klägerin leidet an einer chronisch-entzündlichenErkrankung, aufgrund derer vom zuständigen Versorgungsamt der Freien und Hansestadt Hamburg (FHH) mit Bescheid vom 17. September 2010 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 mit Wirkung ab dem Tag der Antragstellung am 23. Juli 2010 festgestellt wurde.
Nach erfolgreicher, bei der zuständigen Behörde der FHH (im Folgenden: B) absolvierter Ausbildung zur Justizfachangestellten ist die Klägerin dort seither im Angestelltenverhältnis vollzeitbeschäftigt. Das Beschäftigungsverhältnis ist unbefristet, ungekündigt und nach Angaben der Klägerin im Bestand nicht gefährdet; die damit verbundene Tätigkeit kann ohne Einschränkung ausgeübt werden.
Am 24. September 2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen. In der Antragsbegründung führte sie aus, dass sie die Gleichstellung benötige, um ihre Vermittlungschancen zu erhöhen. Sie habe die Aussicht auf ein neues Arbeitsverhältnis bzw. einen neuen Ausbildungsplatz und könne diesen geeigneten Arbeitsplatz bzw. Ausbildungsplatz ohne die Gleichstellung nicht erlangen.
Tatsächlich hatte die Klägerin sich im Juli 2009 bei der Finanzbehörde der FHH Steuerverwaltung (im Folgenden: FB) für eine Ausbildung zur Diplom-Finanzwirtin (gehobener Dienst) beworben, die jährlich im Oktober beginnt und als Finanzanwärter bzw. Finanzanwärterin ausschließlich im Status eines Beamten bzw. einer Beamtin auf Widerruf erfolgt. Nach einem erfolgreich verlaufenen Vorstellungsge...