Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. unangemessene Verfahrensdauer. aktive Verfahrensförderung durch das Gericht. Aktivmonate. dreimonatiges Zuwarten auf die Volltext-Veröffentlichung einer ähnlich gelagerten BSG-Entscheidung. Schriftsatzweiterleitung. Wartezeit von sechs Wochen bei möglicher Schriftsatzerwiderung. zwei zusätzliche Aktivmonate. verfrühte Verzögerungsrüge. Rügezeitpunkt. Verzögerungsbesorgnis. verspätete Verzögerungsrüge. Präklusion
Orientierungssatz
1. Es handelt sich um keine Inaktivitätszeit des Ausgangsgerichts (Passivmonate), wenn dieses auf die Veröffentlichung des vollständig abgefassten Urteils eines vom BSG entschiedenen Revisionsverfahrens zu einer parallelen oder ähnlich gelagerten Fragestellung wartet (hier drei Monate).
2. Bei der Berechnung der Überlänge eines sozialgerichtlichen Verfahrens bleiben diejenigen Monate (als Aktivmonate) unberücksichtigt, in denen eine verfahrensfördernde Handlung durch das Gericht erfolgt ist. Hierzu gehören auch die Monate, in denen lediglich Schriftsätze (ua die Zustimmung zur Entscheidung zum Gerichtsbescheid) dem anderen Beteiligten zur Kenntnis gegeben wurden.
3. Kann das Gericht mit einer weiteren Entgegnung auf einen Schriftsatz rechnen (hier des Beklagten auf die ausführlich begründete Stellungnahme des Klägers zum BSG-Urteil), darf es einen weiteren Zeitraum von sechs Wochen abwarten, welche gegebenenfalls im Anschluss zu zwei zusätzlichen Aktivmonaten führen können (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R = BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16).
4. Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird (vgl § 198 Abs 3 S 2 GVG), besteht bei sozialgerichtlichen Verfahren erst dann, wenn aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens bereits absehbar ist, dass das Gericht nicht mehr mit einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit auskommen wird (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 14).
5. Zur Präklusionswirkung einer zu spät erhobenen Verzögerungsrüge (vgl BSG vom 15.12.2015 - B 10 ÜG 1/15 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 13).
Tenor
Es wird festgestellt, dass das Verfahren L 2 AL 50/13 bei dem Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern eine überlange Verfahrensdauer von 29 Monaten hatte.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 5/8 und der Beklagte zu 3/8.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 4.200 € festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt gemäß § 202 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eine Entschädigung i. H. v. 4.200 € für die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens aus dem Bereich der Arbeitslosenversicherung, welches bei dem Sozialgericht Schwerin (SG) und nachfolgend bei dem Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (LSG) anhängig war.
Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger, bei dem ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt worden war, beantragte am 30. Juni 2009 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA), schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt zu werden. Mit Bescheid vom 26. August 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2009 lehnte die BA den Antrag ab.
Mit der am 21. Dezember 2009 hiergegen bei dem SG erhobenen Klage - S 2 AL 229/09 - machte der Kläger sein Begehren gegenüber der BA weiter geltend. Nach Übersendung der Klageschrift durch das SG gingen im Januar 2010 die Klageerwiderung der BA und eine ergänzende Klagebegründung ein. Die von dem SG im Februar 2010 angeforderte Stellungnahme der BA gelangte im selben Monat zu den Gerichtsakten und wurde auf richterliche Verfügung vom 31. Juli 2010 an den Kläger Anfang August 2010 weitergeleitet. Dessen Stellungnahme mit Schriftsatz vom 13. August 2010 wurde zu den Gerichtsakten genommen. Im November 2011 teilte der Kläger seine geänderte Wohnanschrift mit, die das SG der Gegenseite im selben Monat zur Kenntnis gab. Im Juli 2012 und März 2013 erhob der Kläger beim SG Verzögerungsrüge. Ende März 2013 übersandte das SG der BA eine Abschrift des Schriftsatzes des Klägers vom 13. August 2010. Zugleich hörte das SG die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid mit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen an. Die hierzu erklärte Zustimmung der BA leitete das SG im April 2013 an den Kläger weiter. Mit Gerichtsbescheid vom 25. Juni 2013 wies das SG die Klage ab.
Gegen den ihm am 1. Juli 2013 zugestellten Gerichtsbescheid legte der Kläger am 23. Juli 2013 bei dem LSG Berufung - L 2 AL 50/13 - ein und verfolgte sein ursprüngliches Begehren weiter. Nach Aufforderung durch den Senat im August 2013 und entsprechender Erinnerung im September und Oktober 2013 begründete der Kläger seine Berufung im November 2013. Mitte November 2013 forderte das LSG die BA mit einer Frist von vier Wochen zur Stellungnahme auf. Nach Erinnerung Anfang Januar 2014 ging die Berufungse...