Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Analogleistungen. Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 bei Unterbringung in einer Sammelunterkunft. verfassungskonforme Auslegung. Darlegung und Nachweis gemeinschaftlicher Haushaltsführung
Leitsatz (amtlich)
1. Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b und § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind.
2. Eine verfassungskonforme Auslegung der Norm gebietet, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorausgesetzt wird, wofür die objektive Beweislast (und im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger liegt. (Festhaltung an LSG Neustrelitz vom 11.5.2020 - L 9 AY 22/19 B ER = ZFSH/SGB 2020, 524)
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts A-Stadt vom 5. März 2021 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 25. Februar 2021 Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz nach der Bedarfsstufe 1 zu gewähren.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtzüge.
Gründe
I.
Der 1999 geborene Antragsteller ist Staatsangehöriger von Guinea. Er ist im Besitz einer Duldung und lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft in A-Stadt. Vom Antragsgegner erhält er Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz.
Mit Bescheid vom 18. Februar 2021 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller rückwirkend laufende Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz ab dem 1. Januar 2021 in Höhe von monatlich 343,98 €, wobei der Antragsgegner den Regelbedarf nach der Bedarfsstufe 2 (von 401,- € monatlich) zu Grunde legte. Hiergegen erhob seine Prozessbevollmächtigte am 25. Februar 2021 Widerspruch.
Ebenfalls am 25. Februar 2021 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht (SG) A-Stadt gestellt. Er sei alleinstehend, lebe in einer Gemeinschaftsunterkunft und wirtschafte alleine. Er habe Anspruch auf Leistungen in Höhe des Regelbedarfs für Alleinstehende (Bedarfsstufe 1) in Höhe von 446,- € monatlich. Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz sei verfassungswidrig. Sie verletze das durch Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Der Gesetzgeber habe den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht Rechnung getragen. Er habe keinerlei Ermittlungen hinsichtlich des spezifischen Bedarfs von Leistungsberechtigten gemäß § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz angestellt. Der Bedarf von Leistungsberechtigten weiche nicht signifikant von dem Bedarf anderer alleinstehender erwachsener Leistungsberechtigter ab. Der Gesetzgeber gehe einfach davon aus, dass bei einer Gemeinschaftsunterkunftsunterbringung sich für die Bewohner solcher Unterkünfte Einspareffekte ergäben, die denjenigen von Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar seien. Der Grund für die Leistungsreduzierung solle nach der Gesetzesbegründung eine behauptete „Solidarisierung in der Gemeinschaftsunterbringung“ und sich daraus ergebende Synergie - und Einspareffekte sein. Hiervon könne nicht ausgegangen werden. Tatsächlich profitierten Personen, die gemeinsam untergebracht seien, nicht von Einspareffekten, die mit denen von Paarhaushalten vergleichbar seien, weil sie nicht gemeinschaftlich wirtschafteten. Von Familienangehörigen, die in familiärer Gemeinschaft zusammenlebten, könne erwartet werden, dass sie „aus einem Topf“ wirtschafteten. Empirische Grundlagen hätten eine damit einhergehende Einsparung belegen können. Hingegen sei ein mit der Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften einhergehendes Einsparungspotenzial empirisch nicht belegt und auch nicht plausibel. Die Annahme, dass bei Fremden, deren einzige Verbindung es sei, in der Anonymität von Gemeinschaftsunterkünften leben zu müssen, durch eine vermeintliche „Schicksalsgemeinschaft“ eine Solidarisierung erfolge, aus der sich für die Bewohner finanzielle Synergie-Effekte ergäben, werde der Realität in Flüchtlingsunterkünften nicht gerecht. Voraussetzung für ein gemeinsames Wirtschaften sei ein gefestigtes gegenseitiges Vertrauen. Ob sich dies zwischen Fremden unter diesen Rahmenbedingungen entwickeln könne, sei mehr als zweifelhaft. Der Gesetzgeber könne damit Leistungsberechtigte nicht auf Einsparmöglichkeiten verweisen, die diese nicht realisieren könnten. Die Begründung der neuen Regelbedarfsstufe sei wohl eher in den finanzie...