Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. keine absolute Begrenzung der Rückwirkung von Sozialleistungen durch § 44 Abs 4 SGB 10. keine analoge Anwendung des § 44 Abs 4 SGB 10 auf sozialrechtlichen Herstellungsanspruch bzgl Einmalzahlung nach § 3 AntiDHG. Hepatitis-C-Infektion nach Anti-D-Immunprophylaxe. gesteigerte Informationspflicht der Behörde im Hinblick auf die Beantragung von sozialen Entschädigungsleistungen. ausnahmsweise Pflicht zur Spontanberatung. Einbeziehung von Neufällen in die Entschädigungsregelungen nach dem Einigungsvertrag. abgestimmte Rechtspraxis. Publizitätsdefizit

 

Orientierungssatz

1. § 44 Abs 4 SGB 10 stellt - über den unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus - keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz mit dem Inhalt auf, dass Sozialleistungen regelmäßig nicht für einen länger als vier Jahre zurückliegenden Zeitraum zu erbringen sind (vgl BSG vom 12.12.2007 - B 12 AL 1/06 R = BSGE 99, 271 = SozR 4-2400 § 27 Nr 3).

2. Insbesondere ist § 44 Abs 4 SGB 10 nicht analog auf Ansprüche über Einmalleistungen nach § 3 Abs 3 AntiDHG aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch anwendbar, wenn die Betroffene aufgrund schuldhaft unterlassener Beratung der Behörde keinen rechtzeitigen Antrag auf Anerkennung nach dem BSeuchG gestellt hat, in dessen Folge (im Anschluss) von Amts wegen über die Einmalzahlung zu entscheiden gewesen wäre. Vielmehr ist die Betroffene dann nach dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch so zu stellen, als hätte sie einen rechtzeitigen Anerkennungsantrag gestellt und die Behörde die Einmalzahlung daraufhin nicht etwa abgelehnt.

3. Ein Anspruch auf Einmalzahlung nach § 3 Abs 3 AntiDHG kann entsprechend § 7 Abs 3 AntiDHG von Amts wegen auch ohne rechtzeitig gestellten Antrag auf Anerkennung nach dem BSeuchG im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zuzuerkennen sein, wenn die zuständige Behörde ihre bestehende Pflicht verletzt hat, die Betroffene darüber zu informieren, dass sie durch eine Anti-D-Immunprophylaxe mit Hepatitis C infiziert worden sein könnte und sie daher umgehend bei dem zuständigen Versorgungsamt eine Versorgung auf der Grundlage des BSeuchG in Verbindung mit dem BVG beantragen sollte.

4. Auch wenn es sich bei einer schädlichen Anti-D-Immunprophylaxe um keinen Impfschaden iS des § 51 BSeuchG gehandelt hat, entsprach es dennoch der gängigen Rechtspraxis im Einvernehmen vom Bund und Ländern des Beitrittsgebiets, auch den Kreis der noch nicht geschädigten Personen, bei denen die Folgen der damaligen Infektion erst nach dem 31.12.1990 sichtbar bzw nachweisbar geworden sind und die somit erstmalig ab diesem Zeitpunkt eine Anerkennung begehrten (sog Neufälle), zur Vermeidung unbilliger Härten in die Entschädigung nach dem BSeuchG iVm dem BVG miteinzubeziehen, indem die Übergangsbestimmungen des EinigVtr, Anlage I Kap X D III Nr 3 Buchst c analog angewendet wurden.

5. Grundsätzlich ist ein Leistungsträger auch bei bedeutsamen und folgenschweren Rechtsänderungen nicht verpflichtet, die bei ihm geführten Akten daraufhin zu überprüfen, ob sie Anlass für eine Spontanberatung geben. Beruht allerdings die begünstigende Entschädigungsregelung allein auf einem nicht publizierten Übereinkommen zwischen dem Bund und den Ländern des Beitrittsgebiets und bezieht sie sich auf einen begrenzten, den betroffenen Ländern namentlich bekannten Personenkreis, ist aus Gründen des sozialen Schutzes ausnahmsweise eine andere Beurteilung geboten und eine gesteigerte Informationspflicht der Behörde anzunehmen (vgl BSG vom 10.12.2003 - B 9 VJ 2/02 R = BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1).

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Rostock vom 24. Oktober 2012 sowie der Bescheid vom 26. Mai 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2011 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Einmalzahlung nach dem AntiDHG in Höhe von 10.226,- € nach den gesetzlichen Regeln zu gewähren.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Einmalzahlung nach dem Gesetz über die Hilfe für durch Anti-D-Immun-Prophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen (AntiDHG).

Die am … 1961 geborene Klägerin war anlässlich der Geburt ihres Sohnes am 22. November 1978 im Krankenhaus G. im Rahmen einer Anti-D-Immunprophylaxe aufgrund von kontaminiertem Serum mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert worden.

Sie beantragte bei dem Beklagten am 12. August 2010 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem AntiDHG.

Auf Anfrage des Beklagten teilte die Klägerin mit, über die seinerzeitige Chargen-Nummer vom Krankenhaus nicht informiert worden zu sein.

Mit Schreiben vom 8. Dezember 2010 teilte der Fachbereichsleiter des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Dr. H. mit, über keine Unterlagen zur Klägerin zu verfügen. Diese werde lediglich in den zur Verfügung stehenden...

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