Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. unangemessene Verfahrensdauer. immaterieller Nachteil. Widerlegung der Vermutung. Rechtsanwaltsinteresse. Ausgangsklage wegen Rechtsanwaltskosten. fehlende Rechnungslegung des Rechtsanwalts gegenüber dem Kläger. sozialgerichtliches Verfahren. Prozessvergleich. Auslegung. Abgrenzung zwischen Vergleichsangebot und Anzeige der Vergleichsbereitschaft

 

Orientierungssatz

1. Die gesetzliche Vermutung eines immateriellen Nachteils nach § 198 Abs 2 S 1 GVG ist als widerlegt anzusehen, wenn das Ausgangsverfahren allein mit dem Rechtsschutzziel geführt worden ist, im Hinblick auf die Rechtsanwaltskosten eine „positive“ Kostenentscheidung für das durchgeführte Widerspruchsverfahren zu erlangen, und das Entschädigungsgericht (hier: wegen fehlender Rechnungslegung des Rechtsanwalts gegenüber dem Kläger) nicht feststellen kann, dass der Entschädigungskläger persönlich tatsächlich einem entsprechenden Kostenanspruch seines Rechtsanwalts ausgesetzt gewesen ist.

2. Die Auslegung kann ergeben, dass es sich bei der Formulierung „möglicherweise wäre ein Vergleichsabschluss ausgehend von einem monatlichen Entschädigungsanspruch in Höhe von 50 Euro (vorliegend bei 12 Monaten zurechenbarer Inaktivität von insgesamt 600 Euro) in Betracht zu ziehen“, nicht um ein Vergleichsangebot, sondern nur um die Anzeige der Vergleichsbereitschaft handelt.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 16.01.2020; Aktenzeichen B 10 ÜG 15/19 B)

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

4. Der Streitwert wird auf 1.200,00 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Entschädigung in Höhe von 1200 € für die unangemessene Dauer einer von ihr bei dem Landessozialgericht (LSG) Mecklenburg-Vorpommern eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde (Az.: L 8 AS 170/15 NZB).

In dem der Entschädigungsklage zugrunde liegenden Verfahren vor dem LSG Mecklenburg-Vorpommern legte die Klägerin am 23. April 2015 Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 Sozialgerichtsgesetz - SGG) gegen die vom Sozialgericht (SG) Neubrandenburg in seinem Urteil vom 10. März 2015 (Az.: ) nicht zugelassene Berufung beim LSG Mecklenburg-Vorpommern ein. Grundlage des Urteils war eine am 20. September 2011 vor dem SG Neubrandenburg erhobene Klage, mit der die Klägerin zunächst die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Ablehnungsbescheides der dortigen Beklagten im Hinblick auf eine Zusicherung zum Umzug in eine bestimmte Wohnung begehrte. Darüber hinaus hatte die Klägerin zuvor einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, der vom SG Neubrandenburg, Beschluss vom 13. Oktober 2011 zurückwiesen worden war. Eine gegen diesen Beschluss und gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eingelegte Beschwerde beim LSG Mecklenburg-Vorpommern blieb ebenfalls ohne Erfolg.

Die vor dem SG Neubrandenburg erhobene Klage wurde von der Klägerin nicht begründet. Das SG Neubrandenburg wies, nachdem es erfahren hatte, dass die Klägerin zum 1. Juli 2012 in eine andere neue Wohnung umgezogen war, unter anderem darauf hin, dass die Klage unzulässig sein dürfte. Auch ein sogenanntes Fortsetzungsfeststellungsinteresse für die Klägerin an der Fortsetzung des Rechtsstaates sei nicht erkennbar. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. März 2015 hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausweislich des Protokolls klargestellt, dass das Rechtsschutzbedürfnis in den Kosten für das Widerspruchsverfahren zu sehen sei. Ihrer Auffassung nach stünden der Klägerin die Kosten für das Widerspruchsverfahren zu, „weil der Widerspruch rechtswidrig gewesen“ sei. Da eine andere Klageart in dieser vorliegenden Kostenkonstellation nicht erfolgversprechend sei, müsse wegen der Kosten der Weg der Feststellungsklage gewählt werden. Deswegen sei die Feststellungsklage auch zulässig.

Durch Urteil vom 10. März 2015 wies das SG Neubrandenburg die Klage ab. Die Klage sei unzulässig. Das Klagebegehren in der Hauptsache habe sich erledigt. Ein ursprünglich gegebenes Feststellungsinteresse habe sich mit dem Umzug in die neue Wohnung erledigt. Im Hinblick auf das von der Klägerin geltend gemachte „Kosteninteresse“ sei die gewählte Klage ebenfalls nicht statthaft. Insoweit sei bereits fraglich, ob ein tatsächliches Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung überhaupt jemals bestanden habe. Hinsichtlich der Kosten wäre eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid, die sich isoliert auf die Kosten des Widerspruchsverfahrens beschränke, statthaft gewesen. Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergebe sich hieraus nicht. Zwar sei der Klägerin der Weg einer isolierten Geldmachung der Kostenentscheidung durch die Erhebung der Feststellungsklage verwehrt gewesen. Allerdings begründe das Kosteninteresse nicht die Fortsetzung des Rechtsstreits, da über die Kosten des Widerspruchsverfahrens auf Antrag...

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