Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. sozialgerichtliches Verfahren. unangemessene Dauer. instanzenbezogene Feststellung. Jahresgrenze für Hauptsacheverfahren. fiktive Verfahrensdauer. Gericht. ausreichende Ausstattung. Ermittlungsaufwand. Überlastung. Inaktivität. Aussetzung zugunsten des Entschädigungsklägers. Verzögerung durch Dritte. Tenor. Kostentragung. Entschädigungsklage. Verzögerungsrüge. Amtshaftung. Fehlverhalten des Richters. Richterliche Unabhängigkeit. Unverzügliche Terminierung. Immaterieller Nachteil. Wiedergutmachung auf andere Weise
Leitsatz (amtlich)
1. Der Anspruch auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer nach § 198 GVG ist kein Amtshaftungsanspruch, sondern ein verschuldensunabhängiger Entschädigungsanspruch sui generis.
2. Ob ein Verfahren "überlang" gedauert hat, orientiert sich dementsprechend an der fiktiven Verfahrensdauer, die ein mit durchschnittlicher Qualität und Stringenz tätiger Richter an einem ausreichend ausgestatteten Gericht für das Verfahren benötigen würde.
3. Individuelle Entschuldigungsgründe für eine Verfahrensverzögerung wie Erkrankung des Dezernenten bzw insbesondere Überlastung des Dezernenten vermögen die Verfahrensdauer nicht zu rechtfertigen; zu respektieren hat aber auch der Entschädigungssenat prinzipiell den vom individuell zuständigen Richter angenommenen Ermittlungsbedarf.
4. Die überlange Verfahrensdauer ist instanzenbezogen festzustellen, insbesondere kann die überlange Dauer in einer Instanz nicht durch eine besonders schnelle andere Instanz gerechtfertigt werden.
5. Ein Verfahren ist in dem Umfang überlang, in dem Zeiten der Inaktivität des Gerichtes vorliegen, wobei für die Zeit vom Eintritt der Entscheidungsreife bis ggf zur Zustellung der Entscheidung ein Zeitraum von bis zu 6 Monaten noch als angemessener Zeitraum zu betrachten ist.
6. Durch Dritte (andere Beteiligte, Sachverständige etc) verursachte Verzögerungen sind dem Gericht nur dann zuzurechnen, wenn es nicht die ihm gegebenen Mittel zur Verfahrensbeschleunigung (zB Androhung von Ordnungsgeld bei Sachverständigen) nutzt.
7. Insgesamt ist eine Verfahrensdauer (für Hauptsachen) bis zu einem Jahr pro Instanz im Sozialgerichtsverfahren nicht überlang. Andererseits muss ein Verfahren, welches einige Jahre dauert, nicht zwingend überlang sein, wenn die vom Gericht für erforderlich gehaltenen Ermittlungen eine solche Zeit benötigten.
8. Um dem generalpräventiven Charakter des § 198 GVG Rechnung zu tragen, ist es in der Regel sinnvoll und ermessensgerecht, neben der Entschädigung in Geld stets auch die überlange Verfahrensdauer sowie die Zeit der Überlänge unmittelbar im Tenor festzustellen.
Orientierungssatz
1. Bei der Bemessung der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens nach § 198 Abs 1 GVG sind Zeiten der Aussetzung des Verfahrens nicht mit einzubeziehen, wenn das Gericht mit der Aussetzung (hier bis zur Entscheidung in einem weiteren Gerichtsverfahren) offenkundig im Interesse des Entschädigungsklägers gehandelt hat.
2. Der Senat geht davon aus, dass jedenfalls bis zur Entwicklung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Entschädigungshöhe, die Rechtslage derzeit so unklar ist, dass bereits das Bejahen einer überlangen Verfahrensdauer regelmäßig zur vollen Kostentragung durch das beklagte Land führen muss, sofern nicht völlig unrealistisch hohe Forderungen gestellt wurden oder ein Mitverschulden an der langen Dauer besteht.
Normenkette
GVG §§ 198, 201 Abs. 4; ÜGG Art. 23; GG Art. 19 Abs. 4; EMRK Art. 6, 35 Abs. 1; SGG §§ 114, 197a; ZPO § 41 Nr. 7
Nachgehend
Tenor
Für das Klageverfahren S 2 AL 436/04 beim Sozialgericht Schwerin wird eine überlange Verfahrensdauer von 23 Monaten festgestellt. Insoweit wird der Beklagte verurteilt, an die Klägerin 2.300 € zu zahlen.
Für das Berufungsverfahren L 2 AL 41/07 beim Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern wird eine überlange Verfahrensdauer von 29 Monaten festgestellt. Insoweit wird der Beklagte verurteilt, an die Klägerin 2.900 € zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin und der Beklagte je zur Hälfte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine angemessene Entschädigung für die unangemessene Dauer zweier im Zusammenhang stehender Gerichtsverfahren aus dem Bereich des Arbeitsförderungsrechtes, die jeweils beim Sozialgericht (SG) Schwerin und nachfolgend beim Landessozialgericht (LSG) Mecklenburg-Vorpommern anhängig gewesen sind, gemäß § 202 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).
Den Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zu Grunde:
Die 1942 geborene Klägerin wurde Ende Juli 2002 arbeitslos, worauf hin ihr von der Beklagten des Ausgangsverfahrens, der Bundesagentur für Arbeit (BA), Arbeitslosengeld (Alg) ab dem 01. August 2002 in Höhe von 176,61 € wöchentlich gezahlt wurde, wobei die Anspruchsdauer auf 929 Tage festgesetzt worden war. ...