Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankengeld. Höchstanspruchsdauer. keine Anrechnung von Bezugszeiten von Verletztengeld in der Zeit vom 1.1.2005 bis 10.5.2019. Wortlaut als Grenze der Auslegung auch bei mutmaßlichem Irrtum des Gesetzgebers
Leitsatz (amtlich)
1. Unter der Geltung von § 49 Abs 1 Nr 3a SGB V in der seit dem 1.1.2005 geltenden Fassung des Verwaltungsvereinfachungsgesetzes (juris: VwVereinfSozG) vom 21.3.2005 bis zur Anfügung von § 48 Abs 3 S 3 SGB V durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vom 6.5.2019 durften die Bezugszeiten von Verletztengeld mangels gesetzlicher Grundlage nicht auf die Höchstanspruchsdauer des Krankengeldes angerechnet werden (Anschluss an LSG Erfurt vom 11.7.2019 - L 6 KR 605/17 ; SG Dresden vom 10.12.2009 - S 18 KR 458/06 ; entgegen LSG Essen vom 12.7.2023 - L 10 KR 606/21 ; SG Mannheim vom 26.11.2013 - S 9 KR 1100/13 = NZS 2014, 340 ).
2. Ein gesetzgeberischer Irrtum führt nicht dazu, dass die Gerichte entgegen dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes dem (mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers folgend eine Korrektur des Gesetzes vornehmen und nach dem Wortlaut zustehende Ansprüche versagen könnten.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2012 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger vom 30. Juli 2010 bis zum 24. November 2010 Krankengeld zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger 40 vH seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Krankengeld über den 29. Juli 2010 hinaus, insbesondere die Frage, ob und wann der Anspruch wegen Erreichens der Höchstanspruchsdauer erschöpft ist.
Der im Jahr 1962 geborene Kläger ist von Beruf Maurer. Als versicherungspflichtiger Beschäftigter war er zunächst bei der (seinerzeitigen) AOK Mecklenburg-Vorpommern gesetzlich krankenversichert, seit dem 1. Juli 2006 ist er Mitglied der Beklagten bzw. (bis zu deren Fusion mit der Beklagten am 01. Januar 2009) der IKK direkt.
Bereits im Jahr 1995 hatte der Kläger bei einem ersten Arbeitsunfall eine Verletzung der Halswirbelsäule (HWS) ohne gesicherte Fraktur erlitten. Am 06. Januar 2006 erlitt er einen weiteren Arbeitsunfall, bei dem er sich einen Abbruch der Vorderkante der Bodenplatte des 2. Halswirbelkörpers zuzog. Nachfolgend war er zunächst bis zum 19. Juni 2006 arbeitsunfähig und bezog Verletztengeld von der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau). Die nachfolgende Wiedereingliederung in den Beruf als Maurer war zunächst erfolgreich. Der Kläger arbeitete bis zum 22. November 2007, unterbrochen lediglich von einer ambulanten Rehamaßnahme wegen HWS-Beschwerden vom 23. April bis 22. Mai 2007.
Ab dem 23. November 2007 wurde dem Kläger erneut, nunmehr (fast) durchgehend Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Als Diagnosen wurden anfangs M99.81 (Sonstige biomechanische Funktionsstörungen Zervikalbereich [zervikothorakal]), S06.9 (Intrakranielle Verletzung, nicht näher bezeichnet), M53.1 (Zervikobrachial-Syndrom) und F48.0 (Neurasthenie) benannt. Nachfolgend standen (zeitweise neben Diagnosen aus dem internistischen Fachgebiet wie etwa K29.7 - Gastritis, nicht näher bezeichnet) als begründende Diagnosen teilweise der Zustand nach der HWS-Verletzung, teilweise das Schmerzsyndrom (M53.1) und teilweise psychiatrische Diagnosen (F48.0 - Neurasthenie, F32.9 - Depressive Episode, nicht näher bezeichnet; F45.40 - Anhaltende somatoforme Schmerzstörung) im Vordergrund. Nach einem Entlassungsbericht der Klinik am R., B. O., vom 09. Januar 2009 wurde der Kläger dort im Zeitraum 09. Dezember 2008 bis 13. Januar 2009 wegen chronischer zervikaler Schmerzen bei Zustand nach HWS-Fraktur und bei erheblichen degenerativen HWS-Veränderungen stationär behandelt. Die Schmerzsituation habe sich im Verlauf verbessert. Auch die depressive Verstimmung sei rückläufig gewesen. Eine Leistungsfähigkeit für die bisherige schwere Tätigkeit bestehe nicht mehr. Im Zeitraum vom 24. März 2009 bis 04. April 2009 wurde der Kläger u. a. wegen HWS-Beschwerden stationär in den Sana Kliniken Sommerfeld behandelt. Es wurde eine Anpassungsstörung mit hochgradiger Schmerzchronifizierung infolge der erlittenen Traumata im HWS-Bereich festgestellt. Therapeutisch seien allenfalls kleine Fortschritte in großen Zeiträumen zu erwarten. Im Anschluss an eine vollstationäre Behandlung im Hanse-Klinikum S. vom 23. November bis 22. Dezember 2009 unter den Diagnosen anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4), mittelgradige depressive Episode (F32.1) und (im Hinblick auf einen angenommenen Schmerzmittelmissbrauch) Opiatabhängigkeit (F11.2) stellte der behandelnde Praktische Arzt G. am 22. Dezember 2009 eine Erstbescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich 31. Dezember 2009 unter der Diagnose F32.9 G (Depressive Episode, nicht näher bezeichnet) fest. Die gleiche Diagnose wurde auch nachfolgend durch die Allgemeinmedizinerin DM J. for...