Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Schwere der Erkrankung. immanente Betroffenheit mehrerer lebensfunktionaler Bereiche durch Breite einer Systemerkrankung. Wertungsgleichheit iSd § 2 Abs 1a SGB 5. Verschlechterung des Erkrankungszustandes
Orientierungssatz
1. Die Schwere der Erkrankung nach § 2 Abs 1a SGB 5 folgt nicht aus Mono-Symptomen, sondern aus der Breite der einer Systemerkrankung (hier: Chronisches Fatigue-Syndrom - CFS) immanenten Betroffenheit mehrerer lebensfunktionaler Bereiche wie körperlicher Mobilität, Verrichtungen des täglichen Lebens und/oder Einschränkungen der Leistungsfähigkeit im sozialen Umgang.
2. Eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung iSd § 2 Abs 1a SGB 5 ergibt sich nicht nur aus dem aktuellen Erkrankungsbild, sondern auch daraus, dass CFS als Systemerkrankung progredient verläuft, Verschlechterungen in Schüben auftreten können und Zeitpunkt sowie Schwere des nächsten Schubes nicht vorhersehbar sind.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 27. Juli 2022 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller unter der Voraussetzung einer vertragsärztlichen Verordnung mit Dekristol 20.000 Weichkapseln zu versorgen.
Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beider Instanzen zu erstatten.
Dem Antragsteller wird Prozesskotenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt H., I., bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin die Versorgung mit dem Arzneimittel Dekristol 20.000 Weichkapseln oder alternativ mit einem entsprechenden Präparat (Vitamin D), vorliegend im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes.
Der im Jahr 1967 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert und leidet seit Jahren unter zahlreichen Erkrankungen, u.a.
- Zustand nach Nierentransplantation,
- schwere Albuminausscheidung bei chronischer Nierenerkrankung, Glomerulonephritis
- als Ursache ein Alport-Syndrom, Erstdiagnose 2000 mit Schwerhörigkeit und genetisch bedingter Nierenzystenveränderung mit Niereninsuffizienz
- Zustand nach dialysepflichtiger Niereninsuffizienz,
- Zustand nach allogener Nierentransplantation,
- renale Hypertonie,
- sekundärer Hyperparathyreoidismus,
- Hypercholesterinämie,
- exogen allergisches Asthma bronchiale,
- multiple Allergien und Nahrungsmittelallergien,
- Sigmadivertikulose,
- Chronic Fatique Syndrom,
- periphere arterielle Verschlusskrankheit mit embolischem Verschluss 09/2017,
- Zustand nach multiplen Frakturen,
- deutlicher Vitamin D-Mangel im Rahmen des Hyperparathyreoidismus mit Störung des Kalzium- und Phosphathaushaltes und des Vitamin D-Haushaltes,
- Hypothyreose,
- arterieller Hypertonus,
- Überlappung des Asthma bronchiale mit fixierter Obstruktion COPD GOLD2,
- schwere Gangstörung mit Rollstuhlabhängigkeitsphasen.
Es besteht ein GdB von 100. Der Antragsteller erhält eine teilweise Erwerbsminderungsrente und ergänzend SGB XII-Leistungen.
Das Erkrankungsbild des Antragstellers ist progredient. Inzwischen - seit dem 1.12.2021 - ist dem Antragsteller der Pflegegrad 3 zuerkannt, laut dem zugrundeliegenden Pflegegutachten vom 12.6.2022 benötigt der Versicherte nunmehr u.a. eine umfassende und individuelle Beratung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen, ebenso inzwischen erfolgte die Zuerkennung des Merkzeichens aG, in der Ärztlichen Verordnung des Allgemeinmediziners Dr. J. (K.) vom 17.6.2022 wird ein Leichtkraftrollstuhl rezeptiert, bei Angabe der Diagnosen Osteoporose, Gangstörung, Z.n. Nierentransplantation.
Der Antragsteller führt zahlreiche Rechtsstreite - nach eigener Erklärung: im dreistelligen Bereich - wegen der Versorgung mit verschiedenen Arzneimitteln und Behandlungen im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes und in Hauptsache-Verfahren. Er macht dabei maßgeblich geltend, mit seiner Grunderkrankung des CFS im System der gKV nicht hinreichend versorgt zu sein.
Am 4.6.2022 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die „weitere kassenärztliche Verschreibung des Medikaments Dekristol 20.000 oder eines gleichartigen Produktes ab Juni 2022 dauerhaft“.
Mit Bescheid vom 22.6.2022 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit der Begründung ab, dass die Kosten für Dekristol oder ein gleichwertiges Vitamin-D-Präparat nur dann erstattet werden könnten, wenn eine Verordnung auf einem Kassenrezept erfolgt sei, was der behandelnde Arzt anhand der Diagnose entscheide. Der den Antragsteller behandelnde Arzt stelle indes kein Kassenrezept aus.
Bereits zuvor, am 7.6.2022, hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Hannover Antrag auf Einstweiligen Rechtsschutz gestellt und zur Begründung geltend gemacht, dass er Dekristol bereits seit ca. 20 Jahren durch seinen vorherigen Nephrologen verordnet erhalten habe. Es existiere eine diesbezügliche Therapieempfehlung der L.. Eine Eilbedürftigkeit sei aus medizinischen Gründen gegeben.
Das S...